123. Die Schlange.

[258] Es war einmal ein Kaufmann, und seine Geschäfte erstreckten sich vielleicht bis nach Bagdad; er besaß zwölf Schiffe, auf denen er seine Seereisen machte; überdies hatte er noch drei Töchter. Von der Zeit an aber,[258] als seine Frau starb und seine Kinder mutterlos blieben, überfiel ihn eine Reihe von Unglücksfällen, er verlor ein Schiff nach dem andern und endlich mußte er alle seine Habe verkaufen, um seine Schulden zu bezahlen, so daß ihm nichts übrigblieb außer einem Häuschen auf dem Lande. Dort nun beabsichtigte er sich niederzulassen und das tägliche Brot durch seiner Hände Arbeit zu verdienen; allein die zwei ältesten Töchter wollten ihm dorthin nicht folgen, und nur die jüngste, welche von sanftem Charakter war, fügte sich seinem Wunsche. »Komm, lieber Vater, ich bin bereit!« sprach sie, und sie zogen hinaus. Alsbald fing sie an, nach Art der Gärtner zu graben und zu hacken, stand alle Morgen früh auf und sammelte die Erzeugnisse des Bodens ein, die dann ihr Vater nach der Stadt zu Markt brachte. Dies ging so zwölf Jahre lang. Nach dieser Zeit kamen drei seiner Schiffe zurück, deshalb baten ihn die beiden ältesten Töchter, er möchte ihnen doch einen Unterrock mitbringen; und weil er der jüngsten ganz besonders zugetan war, fragte er auch diese, was sie wünsche. »Ich wünsche nichts, lieber Vater,« antwortete sie, »als daß du deine Schulden bezahlest.« Da der Vater gleichwohl in sie drang ihm zu sagen, was ihr lieb wäre, so sprach sie: »Ich wünsche mir nichts als einige Rosen; jetzt sind sie wohlfeil und in großer Menge zu Markte, und ich möchte wohl einen Rosenstrauß haben.«

Nun gut, der Vater ritt fort, kam zu den Schiffen und hieß die Waren ans Land bringen. Demnächst bezahlte er zwölf Tage lang seine Schulden und beendete seine Geschäfte, fand aber trotz alles Suchens keine Rosen. So kehrte er denn nach Hause zurück, wurde jedoch unterwegs von einem heftigen Regen- und Hagelsturm überfallen, so daß er die Kapuze über den Kopf zog, sich nach vorn über den Mantelsack lehnte und das Pferd gehen[259] ließ, wohin es wollte. Dies kam bald nachher zu einem Torwege und blieb davor stehen, weshalb der Kaufmann die Kapuze zurückschlug, und als er das Tor erblickte, herzlich froh war, daß er ein Obdach gegen das Unwetter gefunden. Nachdem er dann das Pferd untergebracht hatte, trat er in ein Zimmer und setzte sich auf den Diwan, wo alsbald Kaffee, Zuckerwerk und Tschibuk erschien, ohne daß er irgend jemand sah. Inzwischen hatte es zu regnen aufgehört, der Kaufmann stand auf und ging von einem Zimmer in das andere, um den Hausherrn aufzusuchen und sich bei ihm zu bedanken. Da er aber niemand fand, so führte er wieder sein Pferd aus dem Stalle, um seinen Weg fortzusetzen; vorher jedoch sah er einen Rosenstrauch mit drei Rosen an einem und demselben Zweige und ließ sich hinreißen, sie abzupflücken. Kaum indes war dies geschehen, so erschien alsobald eine Schlange und sprach zu ihm: »O du undankbarer Mensch! genügt dir die Freundlichkeit nicht, daß ich dich vom Tode errettete, und mußtest du mir auch noch die paar Rosen mißgönnen und abpflücken?« Der Kaufmann antwortete: »Ich habe alle Zimmer durchsucht, um den Hausherrn zu finden und ihm zu danken, habe ihn aber nicht gefunden.« – »Gib acht, was ich dir sage,« antwortete die Schlange; »du hast drei Töchter, bringe mir die jüngste von ihnen, und denke nicht, weil ich eine Schlange bin, so würde ich dich nicht aufsuchen, falls du dich dessen weigern solltest.« Da der Kaufmann Furcht hatte, sagte er – ja, was konnte der Ärmste wohl sagen? Er sagte, er wolle binnen vierzig Tagen wieder da sein; darauf stieg er zu Pferde und ritt seines Weges.

Als er zu Hause anlangte, kamen sogleich die beiden ältesten Mädchen und verlangten ihre Unterröcke, die jüngste dagegen blieb schüchtern zurück. »Komm her, liebe[260] Tochter,« sprach der Vater, »hier sind auch für dich die Rosen, die du zu haben wünschtest,« und dabei fing er an zu weinen. Die Tochter fragte ihn, warum er weine, und er erzählte ihr ausführlich, was ihm zugestoßen war. Sobald ihre Schwestern dies vernahmen, schmähten und verhöhnten sie sie und sagten: »Du hochmütiges Ding, ein Unterrock genügte dir nicht, du mußtest durchaus Rosen haben, damit lieber die Schlange hierher käme und uns auffräße!« Das Mädchen aber, welches verständig war, kehrte ihnen den Rücken und fragte den Vater, wie viel Tage er als Frist angesetzt habe. »Vierzig Tage, liebe Tochter,« antwortete er. Hierauf ging sie in ihr Zimmer, nahm Papier und Schreibzeug und schrieb sich den Tag auf, kümmerte sich aber sonst nicht weiter darum, während ihre Schwestern Tag und Nacht mit ihr zankten.

Als sie nun einmal ihre Aufzeichnungen nachsah und wahrnahm, daß nur noch zwei Tage fehlten, da sprach sie zu ihrem Vater: »Wohlan, lieber Vater, sattle die Pferde; es ist Zeit, daß wir uns dorthin begeben, wo man mich erwartet.« – »Und ich sollte dich wirklich deinem Tode entgegenführen und von der Schlange verzehren lassen?« erwiderte der Vater. – »Auf, auf!« sprach das Mädchen, »die Schlange wird mir nichts anhaben, wenn ich ihren Willen tue.« Alsbald erhob sie sich, nahm Abschied von den Schwestern und zog mit dem Vater ihres Weges. An Ort und Stelle angelangt, führten sie die Pferde in den Stall und traten in das Zimmer, wo sie sich auf den Diwan setzten und Kaffee nebst Zuckerwerk erschien, ohne daß sie jemand sehen konnten. Bald nachher indes stellte sich die Schlange ein und fragte den Kaufmann: »Hast du meinen Willen getan und deine Tochter hergebracht?« und jener antwortete: »Hier ist sie!« Hierauf nahm er Abschied, stieg zu Pferde und[261] kehrte nach Hause zurück, während das Mädchen bei der Schlange blieb.

Nach nicht langer Zeit verfiel ihr Vater vor Schmerz und Kummer in eine schwere Krankheit und mußte sich zu Bett legen. Die Schlange aber pflegte, wann das Mädchen aß, sich auf ihren Schoß zu legen und sie zu fragen: »Nimmst du mich zum Manne, Liebste?« und sie antwortete dann immer: »Ich habe Furcht vor dir.« Inzwischen war sie sehr traurig, daß ihr Vater so lange zögerte, sie einmal zu besuchen, und als sie eines Tages so vor ihrem Tischchen saß, öffnete sie es und erblickte einen Spiegel, in welchem sie die ganze Welt sehen konnte und auch ihren Vater krank sah. Da fing sie an zu weinen, sich an die Brust zu schlagen und sich die Haare auszuraufen, so daß die Schlange, welche dies im Garten hörte, alsbald herbeieilte und sie fragte: »Was fehlt dir, mein schönes Röslein?« – »Schau hier in den Spiegel!« rief sie aus, »siehst du nicht, daß mein Vater dem Tode nahe ist?« Da sagte die Schlange zu ihr: »Zieh einmal die Schublade dieses Tischchens auf, so wirst du einen Ring sehen; den stecke dir an den Finger und sage mir, wie lange du fortbleiben willst.« – »So lange, bis mein Vater wieder gesund ist,« antwortete das Mädchen, und die Schlange sprach dann folgendermaßen: »Sobald dein Vater dich erblickt, wird er auch wieder gesund; ich gebe dir daher eine Frist von einunddreißig Tagen; kommst du bis dahin nicht zurück und bleibst nur einen einzigen Tag länger, so findest du mich tot.« – »Da sei der Himmel für!« rief das Mädchen; »sei sicher, daß ich vor Ablauf der Frist wieder bei dir bin.« – »Nun wohl,« versetzte die Schlange, »iß erst dein Mittagessen, und dann werde ich dir sagen, was du weiter zu tun hast;« und nachdem sie gegessen, sprach sie zu ihr: »Lege dich in dein Bett und nimm den[262] Ring in den Mund, dann wirst du dich alsbald in deinem alten Zimmer befinden.« Das Mädchen tat, wie ihr geheißen war, legte sich in ihr Bett, steckte dann den Ring in den Mund und war in demselben Augenblicke in ihrem früheren Zimmer, in dem Hause ihres Vaters. Die Mägde, welche vorübergingen und sie schnarchen hörten, liefen alsbald zu ihren Gebieterinnen und meldeten, was sie vernommen. Diese eilten in das Zimmer, fanden die schlafende Schwester und weckten sie auf. Sie verließ sogleich das Bett und pries Gott, daß er sie wohlbehalten in das Haus ihres Vaters gebracht und ihr gestattet habe, diesen wiederzusehen. Die erste Frage, die der Vater an sie richtete, war nach der Schlange und wie es mit derselben stünde. Sie erzählte ihm nun, was die Schlange zu ihr zu sagen pflege, wenn sie esse, wie sie sich nämlich ihr auf den Schoß lege und sie frage: »Nimmst du mich zum Manne?« sie dann aber stets antwortete: »Ich habe Furcht vor dir,« worauf die Schlange sich seufzend entferne. Als der Vater dies vernahm, sprach er: »So sage doch einmal zu ihr, daß du sie zum Manne nimmst; wir wollen sehen, was dann daraus wird.« Das Mädchen versprach dies zu tun; und als die Schwestern ihr zuredeten, sie solle nicht mehr zurückkehren, da ja dann die Schlange sterben würde, antwortete sie: »Warum sollte ich wohl die Schlange sterben lassen, welche sich mir so freundlich und hilfreich erweist?« Das Mädchen blieb bei ihrem Vater bis zu dem bestimmten Tage, nahm dann Abschied von diesem und den Schwestern, und sobald sie sich ins Bett gelegt, steckte sie den Ring in den Mund, worauf sie sogleich wieder bei der Schlange war. Als diese sie erblickte, rief sie freudig aus: »Bist du da, mein holdes Röslein?« und nachdem das Mädchen Kaffee getrunken, legte s ich die Schlange ihr wieder auf den Schoß[263] und fragte: »Willst du mich zum Manne, Liebste?« Da nun das Mädchen antwortete: »Ei freilich!« so warf die Schlange ihre Haut ab, und ein Königssohn stand vor ihr; zugleich auch bot sich ihren Augen ein ganzes Land dar, nebst den Leuten, die darin wohnten. Das Mädchen fragte nun den Prinzen, wer er wäre und warum er in eine Schlange verwandelt worden, und er erzählte ihr, dies sei die Folge einer Verwünschung gewesen, weil er eine Waise geliebt; und wenn er nicht eine Frau gefunden, die ihn zum Manne haben wolle, hätte er immer eine Schlange bleiben müssen. Hierauf lud er den Vater des Mädchens und ihre beiden Schwestern zur Hochzeit ein, und als sie in der Vorhalle seines Palastes anlangten, verwandelte er die letzteren in zwei Krähen, worüber jedoch das Mädchen und ihr Vater laut zu weinen anfingen; der Prinz hingegen sagte, sie sollten nicht weinen, denn jene bösen Seelen hätten bloß ihr verdientes Schicksal erlitten. Alsdann hielt er eine große Hochzeit, machte den Schwiegervater zum Minister, und alles ging bei ihnen aufs beste; hier jedoch finde ich es noch besser.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 258-264.
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