XIV. Die zwölf Brüder.

[60] Lbs. 538 4 to.


Ein Königspaar hatte 12 Söhne. Als die Königin wieder ein Kindchen erwartete, wollte der König sie alle töten lassen, falls das neugeborene Kind ein Mädchen sein würde. Zu dem Zweck wurden schon zwölf Särge angefertigt und in einem Saale aufgestellt. Die Königin war sehr betrübt und ging täglich dorthin, um zu weinen und zu beten. Der älteste Sohn belauscht sie einmal und lässt ihr keine Ruhe, bis sie ihm sagt, was die Särge zu bedeuten haben. Wie er die Wahrheit erfährt, macht er sich mit seinen elf Brüdern auf und entflieht in den Wald. – Die Königin gebiert nun auch ein wunderschönes Töchterchen, das Ingibjörg genannt wird. Das Mädchen sieht die Mutter immer in Tränen, entdeckt eines Tages auch den Saal mit den zwölf Särgen und erfährt schliesslich die Geschichte ihrer Brüder. Sie macht sich sogleich auf, um die Verlorenen wiederzusuchen. Nach langer Wanderung durch den Wald gelangt sie an ein Haus. Hier findet sie ihren jüngsten Bruder und wird von diesem so lange versteckt gehalten, bis die übrigen von der Jagd heimkehrenden Königssöhne ihm versprochen haben, dem ersten Mädchen, das zu ihnen kommen würde, das Leben zu schenken. Sie lebt nun lange Zeit mit den übrigen im Walde. Wie eines Tages der Geburtstag des jüngsten Königssohnes ist, will sie den Tisch besonders hübsch schmücken und bricht deshalb die zwölf Kosen ab, die im Gärtchen vor dem Hause stehen. Im gleichen Augenblicke sind die Brüder in Raben verwandelt. Sie geht verzweifelt in den Wald hinein, bis sie einer alten Frau begegnet, die ihr den Weg zur Erlösung der Brüder angibt. Sie soll zwölf Hemden aus Eichenblättern für sie anfertigen und darf, solange sie bei dieser Arbeit ist, kein Wort sprechen. Der König des Landes findet sie auf der Jagd und heiratet sie. Durch die Ränke seiner Mutter glaubt er nach dreijähriger Ehe schliesslich, dass sie eine Zauberin sei. Sie soll nun verbrannt werden. Noch auf dem Scheiterhaufen arbeitet sie, denn im letzten Hemd fehlt noch der Ärmel. Nun fliegen die Raben herbei, sie wirft die Hemden über sie und erlöst sie. Nur[61] der jüngste Bruder hat statt des einen Armes einen Rabenflügel.

Dieses Märchen folgt sonst in allen Zügen unserem bekannten Volksmärchen von den »zwölf Brüdern« (Grimm 9 I S. 35 ff.), nur in der Anfertigung der Hemden und in dem Zuge, dass dem Hemde des jüngsten Bruders ein Ärmel fehlt, so dass er einen Rabenflügel behält, zeigt das isländische Märchen Übereinstimmung mit den »sechs Schwänen« (Grimm 49 I S. 181 ff.). In der gleichen Weise vereinigt auch das norwegische Märchen »De tolv Vildænder« (Asbj. 33 1 S. 150 ff.) die Erzählung von den »zwölf Brüdern« mit der Erlösung, wie sie der Schwester in dem Märchen von den »sechs Schwänen« auferlegt ist. Hier wünscht sich eine Königin, der beim Schlittenfahren die Nase blutet, eine Tochter weiss wie Schnee und rot wie Blut. Eine Hexe, die den Wunsch hört, gesteht ihr die Erfüllung zu, dafür sollen aber die zwölf Söhne der Königin ihr gehören. Um diese, die zu Wildenten geworden sind, zu erlösen, muss die Schwester nach der Angabe der Brüder aus Wollgras zwölf Mützen, Hemden und Lappen für sie anfertigen. Wie sie schon auf dem Scheiterhaufen steht, kommen die erlösten Brüder – nur der jüngste behält einen Wildentenflügel. – Bas., der dieses Märchen auch schon kennt, erzählt, dass sieben Brüder ihr Elternhaus verlassen wollen, wenn ihre Mutter keine Tochter gebiert. Sie warten nicht weit vom Hause auf Benachrichtigung. Wie ein Mädchen zur Welt kommt, wird irrtümlich das verabredete Zeichen verwechselt, so dass die Brüder nun tatsächlich in die weite Welt ziehen. Die Schwester sucht sie dann später auf. Die Brüder werden in Tauben verwandelt, weil die Schwester trotz des Verbotes vom Grabe eines wilden Mannes Gras abgepflückt hat. Um zu erfahren, wie die Tauben ihre Menschengestalt wieder bekommen können, sucht die Schwester die Mutter der Zeit auf. Sowie die Tauben sich auf die Hörner eines Ochsen (die Säulen des Reichtums) niedergelassen haben, sind sie erlöst. (Bas. 4. Tag 8. Märchen II S. 96 ff). – Auch bei Suterm. (49) »s' Einzig Töchterli« (S. 149 ff.) müssen um der neugeborenen Schwester willen sieben Brüder fliehen. Sie leben dann zusammen in einem Berge in einem verwünschten Schlosse, wo sie für einen[62] Geist ein ewiges Feuer bewachen müssen. Endlich wird dieser erlöst, und die Geschwister kehren alle zusammen heim. – Auf den Faer-oern gibt es ein Märchen »Teir sjey svanirnir« (Faer. 44 S. 417 ff.), das aber in fast allen Einzelheiten mehr zu dem Grimmschen Märchen von den »sechs Schwänen« wie zu dem von den »zwölf Brüdern« gerechnet werden kann. Eine Variante, die Motive aus diesen beiden Grimmschen Märchen und dem Märchen von den »sieben Raben« vereinigt, teilt Grimm in seinen Anmerkungen zu den »sechs Schwänen« mit (III S. 81 ff.).

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 60-63.
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