LXXVII. Das Bauernmädchen und die neunzehn Geächteten.

[298] Árn. II S. 237/8. Nach der Erzählung einer alten Frau in Reykjavík.


In einem Bauernhofe werden Jahre hintereinander in der Weihnachtsnacht schwere Diebstähle verübt, und derjenige, der in der Nacht das Haus bewachen soll, wird am andern Morgen ermordet vorgefunden. Da von den Vatern keine Spur zu entdecken ist, will schliesslich niemand mehr von den Dienstleuten in der Weihnachtsnacht zu Hause bleiben. Endlich erklärt die Tochter des Hauses, sie wolle in der Nacht die Wache übernehmen, und trotz des Widerstandes ihres Vaters setzt sie ihren Willen durch. Sowie nun am Weihnachtsabende alle Leute das Gehöft verlassen haben, um zur Kirche zu gehen, schliesst sie aufs sorgfältigste Türen und Fenster, so dass niemand auf diesem Wege ins Haus kommen kann. Der einzige Zugang ist noch in der Küche durch eine Kinne möglich. Vor die Mündung derselben setzt sich nun das Mädchen mit einem scharfen Beile hin und wartet das Weitere ab. Kurze Zeit nachher hört sie draussen Lärm und laute Reden, und dann scheint ihr, dass einer auf dem Bauche durch die Rinne kriecht. Sie wartet, bis der Kopf herauskommt. Diesen haut sie mit einem Schlage ab, und hierauf zieht sie den Leib völlig ins Zimmer hinein. So tötet sie einen nach dem andern, ohne dass die Männer draussen von dem Schicksale ihrer Gefährten eine Ahnung haben. Erst der achtzehnte merkt, dass er in einen Hinterhalt gefallen ist. Er ruft dem letzten seiner Gefährten eine Warnung zu, so dass dieser entflieht, er selbst aber verliert dann ebenso wie die übrigen sein Leben. – Wie die anderen von der Kirche zurückkehren, geht das Mädchen ihnen entgegen, gerade als wenn nichts geschehen sei. Sie lassen ihr jedoch mit Fragen keine Ruhe, bis sie endlich ihre Erlebnisse erzählt und ihnen die Leichen zeigt. Alle freuen sich, von diesen Übeltätern befreit zu sein, nur das Mädchen hat fortan keine rechte Ruhe mehr, da sie bestimmt glaubt, dass einer in der Weihnachtsnacht ihr entkommen ist und vielleicht sich einmal an ihr rächen wird. Aus diesem Grunde will sie auch nichts von einer Heirat[299] wissen, bis endlich ihr Vater sie überredet, die Werbung eines sehr ansehnlichen, reichen Kapitäns, der mit einem ausländischen Schiffe gekommen war, anzunehmen. Die Hochzeit wird mit grosser Pracht gefeiert, und die Brautleute werden dann in das im oberen Stock einsam gelegene Brautgemach geführt, wohin der Kapitän vorher eine Eisenkiste hatte bringen lassen. Sowie die beiden allein sind, erklärt der Bräutigam, dass er nun für den Mord seiner Gefährten an ihr grausame Rache nehmen wolle. Er nimmt nun aus der Kiste spitze Eisenstangen, und nachdem er die Türe des Zimmers hinter sich verschlossen hat, eilt er zur Küche, um das Eisen glühend zu machen. Kurz entschlossen reisst das Mädchen ein Fenster auf, wickelt sich in Betten und springt hinunter. Vom Falle bricht ihr zwar ein Arm, aber sie kann doch das Schlafzimmer ihres Vaters erreichen, um diesen um Hilfe zu bitten. Sogleich werden nun alle Knechte geweckt, und der angebliche Kapitän wird von ihnen überwältigt und getötet.

Die bei Árnason vorhergehende Erzählung (Árn. II S. 235–7) von der Tochter des Bischofs von Skálholt stimmt im zweiten Teile mit dieser Erzählung überein. Denn auch dort sind elf Geächtete durch die Klugheit eines Mädchens ums Leben gekommen. Der zwölfte und einzige Überlebende kommt dann später als Freier und will in der Hochzeitsnacht aus Rache die Braut zu Tode peinigen. Im letzten Augenblicke kann das Mädchen ihm noch entfliehen, da infolge ihres Gebetes eine Wand sich öffnet. Am folgenden Morgen rettet sie sich wieder zu ihrem Vater, und der angebliche Bräutigam findet die gerechte Strafe.

Diese Erzählung, die eigentlich gar kein Märchenmotiv aufweist, findet sich in verschiedenen Märchensammlungen, und aus diesem Grunde habe auch ich sie hier zur Besprechung aufgenommen. Auf den Fær- oern (Fær. 4 »Gentan í risahedlinun« S. 259 ff.) bildet unsere Erzählung nur die Einleitung eines länger ausgesponnenen Märchens. Die Heldin ist hier ein Dienstmädchen, das elf Räuber tötet, die nacheinander aus einem Loche des Kellerbodens auftauchen, um dort Holz zu stehlen. Der zwölfte entschlüpft und schwört ihr, sich an ihr zu rächen. Er trifft sie einst allein im Garten und will sie[300] nun töten. Sie entflieht und läuft aus Leibeskräften, bis sie schliesslich bei einem Riesen Schutz findet. Der weitere Verlauf des Märchens kommt für uns dann weiter nicht in Betracht. – – –

In Sizilien (Gonz. 10 »Die jüngste, kluge Kaufmannstochter« I S. 54 ff.) ist diese Erzählung gleichfalls länger ausgesponnen. Drei Töchter eines Kaufmanns sind einmal allein zu Hause. Am Abend kommt ein als Bettler verkleideter Räuber und bittet um Aufnahme. Trotz der Warnung der jüngsten Schwester geben die älteren Mädchen ihm Nachtquartier. Die jüngste Kaufmannstochter beobachtet ihn misstrauisch, und als er in der Nacht seine Gefährten ins Haus kommen lässt, entschlüpft sie durch eine Hintertüre und benachrichtigt die Polizei. Einer von den Räubern wird gefangen genommen, die übrigen entfliehen. Der Räuberhauptmann, der sich über das Misslingen seines Planes sehr ärgert, freit in der Verkleidung eines vornehmen Herrn um die Kaufmannstochter, und gegen ihren Willen verheiratet sie der Vater mit ihm. Sowie er sie in seiner Gewalt hat, will er sie zu Tode peitschen. Sie entkommt ihm und wird später die Gattin eines Königs. Auch jetzt noch stellt der Räuberhauptmann ihr nach. In einer Nacht schläfert er durch ein Blatt Papier den König und seinen ganzen Haushalt ein und bemächtigt sich der Königin. Zufällig wird jedoch der Schlafzauber vernichtet, so dass die Leute im Hause erwachen und die bedrängte Frau erretten. – – –

Bei Cosquin (XVI »La fille du meunier« I S. 178 ff.) ist diese Erzählung mit einer anderen Räubergeschichte verbunden. Die Tochter des Müllers ist einmal mit ihrer Cousine nachts allein im Hause. Plötzlich bemerkt diese, dass zwei Männer unter dem Bette liegen, und ohne die Müllerstochter zu warnen, geht sie fort. Die Räuber bedrohen nun das Mädchen und fordern Geld von ihr. Sie bietet ihnen Säcke voll Korn an. Da diese noch nicht zugebunden sind, schickt das Mädchen die beiden Männer in den Garten, um Weidenruten zu holen. Sowie sie das Haus jedoch verlassen haben, verriegelt sie die Tür und haut nachher einem der Räuber, der auf ihre Aufforderung hin seine Hand durch eine Öffnung gesteckt hat, die Hand ab. Daraufhin entfliehen beide Räuber entsetzt. Nach einiger Zeit kommt zur Müllerstochter ein ansehnlicher[301] Freier, der jedoch immer eine Hand im Handschuh hält. Seine Werbung wird angenommen, und auf seine Bitte hin entschliesst sich die Braut eines Tages, ihn in seinem Schlosse zu besuchen. Unbemerkt gelangt sie dorthin. Sie ist nun Zeugin, wie ihre Cousine trotz ihres Flehens von dem Räuber ermordet wird. Ihr abgehauener Arm fällt in der Nähe ihres Schlupfwinkels nieder. Sie nimmt ihn mit und entflieht, so schnell sie nur kann. Am folgenden Tage erzählt sie ihrem angeblichen Bräutigam von ihrem Erlebnis unter dem Vorgeben, es geträumt zu haben. Im letzten Augenblick bringt sie jedoch den Arm hervor, und nun wird der Räuber gefangen und gerichtet. – –

Cosquin bringt zu dieser Erzählung zahlreiche Literaturnachweise. Unserer isländischen Erzählung am nächsten steht ein litthauisches Märchen (Schleicher S. 9 ff.), denn auch hier wird erzählt, dass elf Räuber, die sich nacheinander durch ein Loch in der Mauer in ein Haus einschleichen wollen, von der Tochter des Hauses durch Abschlagen des Kopfes getötet werden. Nur der zwölfte entgeht dem Tode und entflieht. Einige Zeit nachher kommt er als angesehener Freier, den das Mädchen wider ihren Willen heiraten muss. Dem ihr zugedachten Tode entflieht sie schliesslich unter grossen Schwierigkeiten.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 298-302.
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