55. Maria und das Schneehuhn.

Aus Island.


Einstmals entbot die Jungfrau Maria sämtliche Vögel zu sich und befahl ihnen, über einen brennenden Scheiterhaufen zu schreiten. Die Vögel wußten, daß sie die Himmelskönigin war und große Macht hatte; daher wagten sie nicht, ihrem Gebot ungehorsam zu sein, und sprangen sogleich alle in das Feuer hinein und hindurch; nur das Schneehuhn nicht. Als sie aber aus dem Feuer herauskamen, waren ihrer aller Füße federlos und bis auf die Haut versengt und sind von da an bis zum heutigen Tage so geblieben. Und das haben sie davon, daß sie für die Jungfrau Maria durch das Feuer gegangen sind. Nicht besser aber erging es dem Schneehuhn, dem einzigen Vogel, der sich geweigert hatte, durchs Feuer zu gehen; denn Maria zürnte ihm und bestimmte, es solle von allen Vögeln der unschädlichste und wehrloseste werden, aber dabei so verfolgt, daß es beständig, außer während des Pfingstfestes, in Furcht schweben müsse, und zwar solle der eigene Bruder des Schneehuhns, der Falke, es sein Leben lang verfolgen und töten und von seinem Fleische leben.

Eine Gnade jedoch gewährte die Jungfrau Maria dem Schneehuhn, nämlich die, daß es je nach den Jahreszeiten die Farbe wechseln und im Winter ganz weiß, im Sommer braungrau sein dürfe; dann könne es der Falke nicht gar so leicht erkennen und im Winter nicht vom Schnee, im Sommer nicht vom Heidekraut unterscheiden.

An dieser Bestimmung hat sich nichts wieder geändert, und ebensowenig daran, daß der Falke es verfolgt, tötet und frißt; nicht eher aber, als bis er an das Herz des Schneehuhns gekommen ist, merkt er, daß es seine Schwester ist. Er wird dann jedesmal, wenn er ein Schneehuhn getötet und bis zum Herzen aufgefressen hat, von so großem Kummer befallen, daß er noch lange danach furchtbar schreit und klagt.[73]

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Naturgeschichtliche Märchen. 7. Aufl. Leipzig/Berlin: 1925, S. 73-74.
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