[4] 58. Von den vier Königstöchtern.

Es war einmal ein König, der hatte vier schöne Töchter. Da ließ er einmal einen Wahrsager kommen, der sollte ihm wahrsagen, welches Schicksal die Prinzessinen haben würden. Der Wahrsager sprach: »Ehe[4] die jüngste Prinzessin vierzehn Jahr alt sein wird, wird eine Wolke kommen, und die vier Schwestern rauben.« Da ließ der König seine Töchter einsperren, und sie durften nicht einmal in den Garten gehen. Weil aber die Wolke niemals kam, so dachte er endlich, der Wahrsager hätte sich geirrt, und eines Tages, als die Prinzessinnen eine große Sehnsucht hatten in den Garten zu gehen, erlaubte er es ihnen. Es fehlten aber nur wenige Tage bis zum Augenblick wo die Jüngste ihr vierzehntes Jahr vollenden sollte. Kaum hatten die Prinzessinnen den Garten betreten, so senkte sich eine große Wolke herab, und entführte sie alle vier. Nun war der König sehr traurig, und ließ im ganzen Reich verkünden, wer ihm die vier Töchter wiederbringe, solle sich eine davon zur Gemahlin auswählen und nach ihm König sein.

Das hörten auch drei Brüder, Söhne eines benachbarten Königs, die machten sich auf, und wollten die vier Königstöchter suchen. Sie wanderten immer gerade aus, denn sie wußten nicht, wo die Prinzessinnen weilten. Da begegneten ihnen eines Tages ein altes Mütterchen, das frug sie: »Schöne Jünglinge, wohin wandert ihr?« »Wir sind ausgezogen, die vier Königstöchter zu finden, die von der Wolke geraubt worden sind,« antwortete der Jüngste. »Ach, ihr armen Kinder,« rief die Alte, »da müßt ihr noch viel Gefahren und Mühe ausstehen; denn wenn ihr nun noch lange gewandert seid, so kommt ihr an eine Cisterne, in die müßt ihr euch hinunterlassen. Drunten aber ist ein Lindwurm mit sieben Köpfen, der bewacht die Prinzessinnen, und den müßt ihr tödten.« Die Königssöhne dankten der freundlichen Alten für die Auskunft die sie ihnen gegeben, und wanderten weiter.

Nachdem sie viele Tage gewandert waren, kamen sie endlich an die Cisterne, in deren Tiefen der Lindwurm hauste. Da sprach der Aelteste: »Lasset mich zuerst hinunter, und wenn ich läute, so ziehet mich schnell wieder herauf.« Da banden sie ihm einen Strick um den Leib, und ließen ihn in die Cisterne hinab; er aber hatte ein Glöckchen in der Hand. In der Cisterne war es so dunkel und unheimlich, daß er bald den Muth verlor, und das Glöckchen läutete. Da zogen ihn seine Brüder[5] wieder herauf, und der Zweite ließ sich an den Strick binden, und wollte nun sein Glück versuchen. Er kam aber nicht viel weiter als der Aelteste, verlor den Muth, und gab bald das Zeichen, ihn herauf zu ziehen. Nun kam die Reihe an den Jüngsten; der ließ sich ebenso anbinden wie seine Brüder, und nahm auch das Glöckchen mit. Weil er aber mehr Muth hatte, als die beiden andern, so kam er glücklich auf den Grund der Cisterne. Da kam er in einen großen Raum, darin waren die Prinzessinnen, die waren an die Wand festgekettet, und in der Mitte stand der Lindwurm mit sieben Köpfen, der war gar grausig anzusehen. Der Königssohn zog sein Schwert, und fing an, mit dem Lindwurm zu kämpfen, und wenn er ermattete, so schaute er nur die jüngste Prinzessin an, so gab ihm das neue Kraft, also daß es ihm endlich gelang, dem Lindwurm die sieben Köpfe abzuschlagen. Da waren die Prinzessinnen voll Freude, und der Königssohn löste ihre Fesseln, und führte sie an den Ort hin, wo seine Brüder ihn hinaufziehen sollten. Er mochte aber läuten so viel er wollte, so war niemand da, um den Strick heraufzuziehen, denn seinen Brüdern war die Zeit lang geworden, und sie hatten ihn im Stich gelassen. »Was sollen wir nun thun?« frug der Königssohn die Prinzessinnen; die wußten aber auch keinen Rath; endlich sprach die Jüngste: »Jeden Tag kommt ein Adler und senkt sich in die Cisterne hinunter. Wenn wir ihn freundlich bitten, so trägt er uns vielleicht auf seinen Flügeln hinaus.«

Also warteten sie geduldig, bis der Adler durch die Cisterne herunter geflogen kam. Da baten sie ihn, er möge sie doch auf seinem Rücken hinaustragen, und er antwortete: »Das will ich gerne thun, ihr müßt mir aber zu fressen geben, bis ich satt bin.« »Das kann leicht geschehen,« erwiderte der Königssohn, »hier liegt ja der ganze Lindwurm.« Also zerschnitt er den Lindwurm in lauter Stücke, und gab sie dem Adler zu fressen; der fraß bis er satt war, und trug dann die älteste Prinzessin hinauf. Als er wiederkam, fraß er zuerst wieder einen Theil vom Lindwurm, und trug dann die zweite Prinzessin ans Tageslicht, dann die Dritte, und endlich auch die Vierte.[6]

Nun war nur noch der Königssohn da. Der Adler aber hatte den ganzen Lindwurm aufgegessen und sagte: »Wenn du mir nicht etwas zu fressen gibst, so trage ich dich eben nicht hinauf.« Der Königssohn bat den Adler und sprach: »Ach, wo soll ich denn hier in dieser Einöde etwas herholen? wenn wir oben angekommen sind, so will ich dir geben, was du willst.« Das Thier aber ließ sich nicht erweichen, und sprach: »Schneide dir aus den Armen und Beinen das Fleisch aus, und gib es mir, so will ich mich damit zufrieden geben.« Da dachte der Königssohn: »Ich bin so wie so todt, so will ich denn dies letzte Mittel versuchen.« Also schnitt er sich aus seinen Armen und Beinen das Fleisch aus, und hielt es dem Adler hin, der fraß es und trug ihn dann hinauf. Als ihn die Prinzessinnen so blutig wiedersahen, erschraken sie sehr, und verbanden seine Wunden und pflegten ihn, bis er wieder gesund war. Dann führte sie der Königssohn zu ihrem Vater zurück, und wählte sich die Jüngste zu seiner Gemahlin. Also feierten sie eine glänzende Hochzeit, und als der alte König starb, erhielt der Königssohn die Krone und lebte glücklich und zufrieden, wir aber sind leer ausgegangen.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. 4-7.
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