Oraggio und Bianchinetta.

[100] Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Kinder. Der Knabe hieß Oraggio, das Mädchen Bianchinetta. Nachdem sie sehr reich gewesen waren, wurden sie durch verschiedene Unglücksfälle arm. Es wurde beschlossen, daß Oraggio in einen Dienst gehen sollte, und er erhielt eine Stelle als Kammerdiener im Hause eines Fürsten. Nach einiger Zeit, da der Fürst mit seinem Dienst zufrieden war, beförderte er ihn und stellte ihn an zur Reinigung der Bilder in seiner Galerie. Unter den verschiedenen Gemälden bildete das Porträt einer sehr schönen Dame beständig den Gegenstand seiner Bewunderung. Oft fand ihn der Fürst im Anschaun[101] des Bildes versunken und fragte ihn eines Tages, weshalb er so viele Zeit vor dem Bildnis zubrachte. Oraggio antwortete, weil es vollkommen seiner Schwester gleiche, und da er so lange schon von ihr entfernt gewesen, fühle er das Bedürfnis, sie wiederzusehen. Der Fürst erwiderte, er glaube nicht, daß dies Bild seiner Schwester gleiche, da er habe suchen lassen und keine Frau, die dieser gleiche, habe finden können. Dann fügte er noch hinzu: »Laß sie herkommen, und wenn sie so schön ist, wie du sagst, werde ich mich mit ihr vermählen.«

Sofort schrieb Oraggio an Bianchinetta, und sie reiste augenblicklich ab. Oraggio erwartete sie am Hafen, und als er von fern schon ihr Schiff erblickte, rief er zu wiederholten Malen: »Ihr Schiffer im Meer, gebt acht, daß die Sonne meine Bianchina nicht schwarz brennt!« – In dem Schiff, wo Bianchinetta war, befand sich auch ein anderes Fräulein mit seiner Mutter. Beide sehr häßlich. Als sie dem Hafen nahe waren, gab die Tochter Bianchinetta einen Stoß, so daß sie ins Meer fiel. Oraggio, da sie gelandet waren, konnte seine Schwester nicht wiedererkennen, und jenes häßliche Mädchen stellte sich ihm dar mit der Behauptung, die Sonne habe sie so geschwärzt, daß sie nicht mehr zu erkennen sei. Der Fürst war sehr überrascht, dieses Mädchen so häßlich zu finden, schalt Oraggio und gab ihm einen anderen Dienst; er sollte die Gänse hüten.

Nun trieb er täglich die Gänse ans Meer, und jedesmal, wenn sie ans Ufer kamen, tauchte Bianchinetta empor und schmückte sie mit Schleifchen von verschiedenen Farben. Sie aber, wenn sie wieder nach Hause kamen, schnatterten:


Kroh, kroh!

Vom Meer kommen wir,

Gold und Perlen essen wir.

Oraggios Schwester ist schön,

Schön wie die Sonne sind ihre Augen,

Die würde zu unserm Herren taugen.
[102]

Der Fürst fragte Oraggio, warum die Gänse täglich dies Sprüchlein sagten, und er erzählte, seine Schwester sei ins Meer geworfen und von einem Seefisch gepackt und in einen schönen Palast unter dem Wasser geschleppt worden, wo er sie gefangen halte. Doch an einer langen Kette, die ihr erlaube bis ans Ufer zu kommen, wenn er die Gänse dorthin treibe. Der Fürst sagte: »Wenn es wahr ist, was du mir erzählst, frage sie, was geschehen müsse, sie aus dieser Gefangenschaft zu befreien.«

Am nächsten Tage fragte Oraggio Bianchinetta, was er tun könnte, um sie aus der Haft zu retten. Sie antwortete: »Es ist unmöglich, mich von hier wegzubringen. So sagt mir wenigstens immer das Meerungeheuer: Man brauche dazu ein Schwert, das so scharf sei, wie hundert, und ein Pferd, das laufe wie der Wind. Diese beiden Sachen zu finden, ist fast unmöglich. Du siehst also, daß es mein Schicksal ist, ewig hier zu bleiben.«

Als Oraggio zum Palast zurückkehrte, berichtete er dem Fürsten die Antwort seiner Schwester, und der Fürst bemühte sich so lange, bis er das Pferd fand, das lief, wie der Wind, und das Schwert, das so scharf war, wie hundert. Dann gingen sie ans Meer und fanden Bianchinetta, die sie erwartete. Der Fürst führte sie in seinen Palast, und die Kette wurde mit dem Schwert durchschnitten. Dann stieg sie zu Pferde und konnte sich so befreien. Der Fürst aber fand sie so schön wie das Bild, das Oraggio immer betrachtet hatte, und heiratete sie. Die häßliche Andere wurde mitten auf dem Platz mit dem üblichen Hemde aus Pech verbrannt, sie aber lebten froh und glücklich.

Quelle:
Heyse, Paul: Italienische Volksmärchen. München: I.F. Lehmann, 1914, S. 100-103.
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