[194] Was die drei Kaufmannssöhne erzählen.

[194] Es waren einmal drei Kaufleute, davon hatte jeder einen Sohn, und diese Söhne liebten sich untereinander von ganzem Herzen, wie sich nur Freunde lieben können. Einstmals beschlossen sie, zusammen auf die Jagd zu gehen, und legten sich zeitig am Abend nieder. Der Mond schien hell in die Kammer herein und schien dem einen ins Gesicht, daß er erwachte. Er meint, es sei Tag, kleidet sich an, weckt seine Freunde, und sie machen sich zusammen auf den Weg.

Wie sie so dahinschreiten, verfinstert sich plötzlich der Himmel, ein Regen stürzt herab, wie aus Eimern gegossen, und bald sind sie naß wie gebadete Mäuse. Dazu verloren sie den Weg und wußten nicht mehr wo aus noch ein. Endlich schimmert von weitem ein Licht, auf dieses gehen sie los und kommen an ein Haus. Sie klopfen, ein zierlich gekleidetes Mädchen erscheint auf der Schwelle und fragt: »Was wollt ihr hier und zu dieser Stunde?« Die Knaben antworteten: »Wir sind verirrt und vom Regen durchnäßt, wollt Ihr uns nicht ein wenig eintreten lassen?« Sie antwortete: »Wartet ein wenig, denn da muß ich zuvor meine Herrin fragen.« Sie ging hinein: »Frau, es sind drei Knaben vor der[195] Thür, welche Einlaß begehren, sie sind naß wie die gebadeten Mäuse, erlaubt Ihr, daß sie sich erholen?« Die Herrin sagte: »Laß sie hereinkommen.«

So traten sie ein, setzten sich, und die Frau des Hauses sagte: »Ich bin Witwe, in der Lade liegen die Kleider meines Mannes, die gebe ich euch, derweilen die euern am Feuer trocknen.« Währenddessen tagte es, und sie ließ den Durchfrorenen einen guten Morgenimbiß bereiten, sodaß ihnen die Kräfte gar bald zurückkehrten. »O Herrin«, sprachen sie, »für Euere große Güte wie sollen wir Euch danken?« Sie sagte: »Zum Dank erzähle mir jeder von euch eine Mär, möget euch auch indessen die Glieder noch besser erwärmen.«

Der Aelteste hub an: »Ich würde Euch, o Herrin, gern eine Geschichte erzählen, die mir selbst geschehen ist, wer weiß aber, ob sie Euch gefalle.« – »Erzählt nur«, nickte die Frau, und er begann:

»Ich bin der Sohn eines Kaufmanns. Mein Vater schickte mich eines Tages auf Reisen, gab mir das nöthige Geld und einen Diener zur Begleitung. Dieser Diener war einstmals vorausgegangen, und als ich so allein dahinschritt, trat vor mich ein vermummter Bauer, packte mich und schleppte mich in ein Zimmer, in dessen Mitte sich ein eiserner Käfig befand mit vielen Menschen darin. Die fragte ich, was hier los sei, und sie machten mir durch Zeichen deutlich, daß ich zu ihnen hereingesperrt werden würde. Und richtig, so kam es. Der Käfig gehörte einem Riesen, und die Menschen darin waren seine Gefangenen. Wir hockten zusammen im Käfige, und ich fragte meine Gefährten: ›Was geschieht nun mit uns?‹ Sie sagten: ›Das werdet Ihr bald erfahren, denn jeden Morgen nimmt der Riese einen von uns und verzehrt[196] ihn zum Frühstück. Wartet's nur ab!‹ Wie zitterte ich jetzt jedesmal, sobald der Riese ans Gitter trat, und verkroch mich hinter den andern.

Eines Tages war der Riese guter Laune, nahm seine Guitarre von der Wand und fing an zu klimpern. Aber seine Finger waren plump, und die Saiten sprangen. Da rief er, zu uns gewandt: ›Wer von euch mir meine Guitarre flickt, dem schenke ich die Freiheit.‹ Wie rasch sprang ich da hervor und rief so laut ich konnte: ›Ich, Herr, ich bin Guitarrenmacher! Mein Vater ist Guitarrenmacher! Mein Großvater war Guitarrenmacher, mein Urgroßvater! Alle meine Verwandten sind Guitarrenmacher!‹ Die Gefangenen hielten sich die Ohren zu, so laut hatte ich geschrien, und der Riese sagte schmunzelnd: ›Laßt mir den einmal heraus!‹ Da mußte mich der Bauer herausholen, und ich machte mich über die Guitarre her, an der ich herumbastelte mit Schrauben und Zwecken, bis sie wieder in Ordnung war. Jetzt kniff mich der Riese in die Wange und steckte mir einen Ring an den Finger: so war ich frei. Ich springe aus dem Zimmer, laufe und laufe und – stehe alsbald wieder vor dem Eingange, den ich verlassen. Wie erschrak ich! Ich beginne aufs neue zu laufen, wieder dieselbe Geschichte.

Da höre ich aus einem Fenster ›Pst! Pst!‹, blicke auf und sehe ein Mädchen, das mich heranwinkt und mir zuflüstert, damit es der Riese nicht höre: ›Schneidet Euch den Ringfinger ab!‹ – ›Ich habe kein Messer!‹ – ›Wartet, ich gebe Euch eins!‹ Wie ich das Messer hatte, lege ich den Finger auf eine Säule, die am Eingange stand, und schneide los. Kaum aber war der Finger mit dem Ringe ab, konnte ich auch vorwärts[197] kommen und erreichte das Haus meines Vaters. So behielt ich mein Leben.«

Die Geschichte war fertig, die Frau sagte: »Ihr Armer!« und forderte den Nächsten auf, die seine zu erzählen.

»So hört mich an, o Herrin! Mein Vater ist Kaufmann. Eines Tages gab er mir eine Summe Geldes und ein Schiff und schickte mich nach einem fernen Lande. Ich segle ab. Mitten auf hohem Meere erhebt sich ein grauser Sturm, der uns zwang, all unsere Waaren über Bord zu werfen. Der Sturm dauert an, und die Lebensmittel nehmen ab, werden knapper und knapper und sind eines Morgens zu Ende. Da tritt der Kapitän zu uns und sagt: ›Mit dem Proviant sind wir zu Ende. Jetzt schreiben wir unsere Namen auf Zettelchen, und jeden Morgen wird einer davon gezogen. Wen das Los trifft, der wird geschlachtet und aufgezehrt, den übrigen das Leben zu erhalten.‹ Mit Zittern sah jeder dem Morgen entgegen, und endlich war niemand mehr übrig als der Kapitän und ich, und der nächste Tag sollte über uns entscheiden. Ich nahm mir vor, so mich das Los treffen sollte, über den Kapitän herzufallen und ihn umzubringen, mich wenigstens nicht von ihm tödten zu lassen. Aber das Los traf den Kapitän, und der öffnete seine Arme und rief: ›Hier bin ich, mein Bruder!‹ Das Herz wollte mir brechen, aber ich habe ihn geschlachtet. Habe ihn geschlachtet und ein Viertel des Körpers zum Tagesbedarf an der Schiffswand aufgehängt, während ich die drei andern im Raume barg. Da kommt ein Adler herbei, packt das Viertel mit seinen Krallen und trägt es fort. Das Gleiche geschah nach und nach mit den zwei andern Vierteln. Bei dem letzten verstecke ich mich, und wie sich der Adler auf die Beute stürzt, springe ich hervor,[198] klammere mich in seinen Federn fest und schwinge mich auf seinen Rücken. Der Adler fliegt über das Meer, fliegt aufs Land und läßt mich auf einem Felsen liegen. So entrann ich gewissem Tode und kam in die Heimat zurück.«

»Armer Jüngling!« sagte die Frau, nachdem er geendet, »deine Geschichte ist wunderbar. Aber jetzt«, zum Dritten gewendet, »erzählt die Euere.«

»O Herrin«, hub dieser an, »meine Geschichte ist gar traurig, und wenn Ihr sie hört, werdet Ihr die Thränen nicht zurückhalten können. Auch mein Vater schickte mich auf Reisen. Am Abend des ersten Tages machte ich Rast in einer Herberge an der Straße. Man bereitete mir ein Lager, ich aß und trank und ging dann, mich niederzulegen. Ich verrichtete mein Abendgebet und bückte mich, nachdem ich geendet, den Boden zu küssen, als ich einen Leichnam unter meinem Bette sehe, starr und steif. Halt! dachte ich, der ist hier ermordet worden. Du bist in eine Räuberhöhle gerathen, und wie diesem wird es dir ergehen, wenn du dich nur erst schlafen gelegt! Gewiß werden sie dann kommen und dich umbringen. Da zog ich den Todten ganz leise unter dem Bett hervor, legte ihn ins Bett und mich selbst, langgestreckt, unter dasselbe, wo ich lag, ohne mich zu rühren. Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen, als ich Geräusch vor der Thür höre, diese öffnet sich, und herein tritt der Wirth mit einem Eisen in der Hand, der Knecht mit einem Hammer und die Frau mit einem Licht. Ich höre, wie sie sagen: ›Seht, er ist fest eingeschlafen! Vorwärts, ans Werk!‹ Und nun schlagen sie auf den Todten los, was sie nur schlagen können. ›So‹, sagt der Wirth, ›der ist jetzt auch abgethan, nun legen wir[199] ihn unters Bett, und den, der schon darunter liegt, werfen wir zum Fenster hinaus.‹ Bei diesen Worten stockte mir das Herz. Doch die Wirthin sprach: ›Ach, lassen wir ihn jetzt liegen, morgen ist auch ein Tag.‹ So war ich wieder allein. Kaum brach der Morgen an, so machte ich Lärm von meinem Fenster aus, Leute kamen, es kam das Gericht, und die Räuber wurden zum Tode geführt. Ich aber kehrte zu meines Vaters Hause zurück. Dies, o Frau, ist meine Geschichte.«

Die Frau sagte: »Was habt ihr Armen alles erlitten, man weiß gar nicht, wem es am schlimmsten gegangen. Wüßte ich aber, wer von euch das meiste Mitleid verdiente, den würde ich wol zum Gemahl nehmen.«

Leider hat sie das bis heute nicht erfahren können.

Quelle:
Kaden, Waldemar: Unter den Olivenbäumen. Süditalienische Volksmärchen. Leipzig: Brockhaus 1880, S. 194-200.
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