30. Vom Selbstlob.

[143] Als der berühmte Rabbi Schmelke als Rabbiner in die Stadt Nikolsburg berufen wurde und diesen Ruf annahm, bat er die Vertreter der Gemeinde, daß man ihm gleich nach seiner Ankunft zwei Stunden Ruhe gönnen möchte; dann erst werde er die Gemeindemitglieder empfangen und mit ihnen reden, wie es beim Einzuge eines neuen Rabbiners in eine Stadt Sitte ist. Die Leute willigten darauf ein und ließen ihn in Ruhe. Aber einige Neugierige versteckten sich im Zimmer, in das sich der neue Rabbi zurückzog, um zu sehen, was er in diesen zwei Stunden tun würde. Und die Leute hörten, wie Rabbi Schmelke an sich selbst folgende Rede richtete:

»Gegrüßt seiest du, unser Meister, Herr und Rabbi, gegrüßt seiest du, neuer Rabbiner von Nikolsburg!« Und so fort, was man eben sagt, wenn man einen großen und berühmten Rabbi im Namen einer Gemeinde begrüßt.

Während er diese Rede hielt, seufzte und ächzte er, und das dauerte die ganzen zwei Stunden, für die er sich zurückgezogen hatte. Als später die Gemeindemitglieder zu ihm kamen, empfing er sie sehr schön und hörte ihre Begrüßungsansprachen an.

Die Leute, die sich versteckt hatten, erzählten den Großen der Stadt, was sie vorhin gehört hatten, als der Rabbi zwei Stunden allein war. Die Vorsteher der Gemeinde baten Rabbi Schmelke, er möchte ihnen sein sonderbares Gebaren erklären. Und er sagte ihnen:[144]

»Die Worte des Weisen: ›Die Ehre deines Nächsten sei dir wie deine eigene Ehre‹ haben neben dem offenbaren Sinn, nämlich daß man die Ehre seines Nächsten ebenso heilig halten soll wie seine eigene Ehre, – noch einen geheimen Sinn. Mit diesen Worten wollte der Weise dem Menschen sagen, daß, wenn ihm jemand Ehre erweist, er sich darüber nicht freuen, sondern seufzen und ächzen soll. Es ist ja selbstverständlich, daß, wenn ein Mensch sich selbst alle möglichen Ehren erweist und sich mit Lob überschüttet, ohne daß es irgend jemand hört, er davon nicht die geringste Freude hat. Denn Lob bereitet Freude nur wenn es von andern Menschen und in Gegenwart von andern Menschen ausgesprochen wird, nicht aber von sich selbst und ohne Zeugen. Die Worte des Talmuds sind nämlich auch so zu verstehen: Die Ehre deines Nächsten – das heißt die Ehre, die dir dein Nächster erweist – sei dir wie deine eigene Ehre, das heißt wie die Ehre, die du dir selbst erweist. Das Lob aus fremdem Munde sei dir ebenso wenig wert, wie das Lob aus eigenem Munde; und wenn dich jemand lobt und ehrt, sollst du nicht hochmütig werden. Als ich hier ankam, fürchtete ich, daß, wenn ihr mich gleich bei meiner Ankunft mit Reden begrüßtet, ich dadurch leicht hochmütig werden könnte. Darum habe ich mich für einige Zeit zurückgezogen und habe mir selbst Ehre erwiesen und alle die Lobreden gehalten, von denen ich wußte, daß ihr sie mir halten werdet. Und es wurde mir schließlich übel von allen diesen Worten. Und als ich später dieselben Lobreden aus eurem Munde hörte,[145] machten sie auf mich schon gar keinen Eindruck und waren mir ebensowenig wert, wie früher, als ich sie mir selbst brachte.«

Quelle:
Eliasberg, Alexander: Sagen polnischer Juden. München: Georg Müller, 1916, S. 143-146.
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