16. Condlas Jenseitsfahrt

Condla mit dem Feuerhaar war der Sohn Conns, des Siegers in hundert Schlachten. Eines Tages, da er an seines Vaters Seite auf der Höhe von Usna stand, erblickte er eine seltsam gekleidete Jungfrau, die auf ihn zukam. »Woher kommst du, Jungfrau?« sagte Condla. »Ich komme aus den Gefilden derer, die da ewig leben,« sagte sie, »von da, wo es weder Tod noch Sünde gibt. Wir haben dort ewigen Feiertag und bedürfen keiner Hilfe in unsrer Lust. Und bei all unsrer Freude gibt es keinen Streit. Und weil wir unsre Heimat in den runden grünen Hügeln haben, nennen uns die Menschen das Hügelvolk.« Der König und alle, die mit ihm waren, wunderten sich sehr, eine Stimme zu hören, da sie doch niemanden sahen. Denn nur Condla allein, sonst niemand sah die Elbenjungfrau. »Mit wem redest du, mein Sohn?« sagte Conn der König. Darauf antwortete die Jungfrau: »Condla spricht zu einer jungen, schönen Maid, die weder Tod noch Alter erwartet. Ich liebe Condla, und nun rufe ich ihn hinweg zu den Gefilden der Lust, Moy Mell, wo Boadag ewig König ist, und in jenem Land hat es keine Klage und Sorge gegeben, seit er den Thron bestieg. Auf, komm mit mir, Condla mit dem Feuerhaar, das rötlich wie die Morgenröte leuchtet auf deiner lohfarbenen Haut. Eine Feenkrone wartet deiner für dein schönes Antlitz und deine königliche Gestalt. Komm, und niemals soll deine Schönheit welken noch deine Jugend bis zum jüngsten furchtbaren Tag des Gerichts.« Der König, der in Furcht geriet über das, was die Jungfrau sprach, welche er hörte, obwohl er sie nicht sehen konnte, rief laut nach seinem Druiden, Coran genannt: »O Coran mit den vielen Zaubersprüchen«, sagte er, »und mit den Listen der Schwarzkunst, ich rufe nach deiner Hilfe. Eine Aufgabe ist mir auferlegt, die zu schwer ist für meine Geschicklichkeit und für meinen Witz, eine Aufgabe, die größer ist als jede, die mir auferlegt wurde, seit ich Krone trage. Eine unsichtbare Maid hat sich uns zugesellt und mit ihrer Zaubermacht möchte sie meinen lieben, meinen schönen Sohn von mir nehmen. Wenn du nicht hilfst, so wird er deinem König entführt durch Weiberlist und Hexenwerk.«[43] Darauf trat Coran der Druide vor und sang seine Zaubersprüche gegen den Ort hingewendet, wo die Stimme der Jungfrau vernommen worden war. Und niemand hörte ihre Stimme wieder, noch konnte Condla sie länger sehen. Nur warf sie, als sie vor des Druiden mächtigem Zauberbann verschwand, Condla einen Apfel zu. Von diesem Tage ab wollte Condla einen ganzen Monat lang weder Speise noch Trank nehmen, sondern aß nur von diesem Apfel. Aber was er davon aß, das wuchs wieder, und der Apfel blieb immer unversehrt. Und während dieser ganzen Zeit erstand in ihm ein mächtiges Sehnen und Verlangen nach der Jungfrau, die er gesehen hatte. Aber als der letzte Tag des Monats der Erwartung kam, da stand Condla an seines Vaters, des Königs Seite in der Ebene von Arcomin, und wieder sah er die Jungfrau auf sich zukommen und wieder sprach sie zu ihm: »Eine glänzende Stellung, fürwahr, nimmt Condla ein unter den kurzlebigen Sterblichen, die auf den Tag des Todes harren. Aber jetzt bittet dich das Volk des Lebens, die Ewig-seienden, und fleht dich an, du mögest nach Moy Mell, den Gefilden der Lust kommen, denn sie lernten dich kennen, als sie dich in deinem Heim unter deinen Lieben sahen.« Als Conn der König die Stimme der Maid vernahm, rief er laut nach seinen Leuten und sprach: »Holt rasch meinen Druiden Coran, denn ich sehe, daß sie heute wieder Gewalt hat zu reden.« Darauf sagte die Jungfrau: »O mächtiger Conn, Fechter in hundert Schlachten, des Druiden Macht wird wenig geschätzt; sie genießt wenig Ehre in dem gewaltigen Land, das bevölkert ist mit so viel Aufrechten. Wenn das Gesetz Gottes kommen wird, so wird es die Zaubersprüche der Druiden hinwegfegen, welche von den Lippen des falschen schwarzen Dämons kommen. Nun bemerkte Conn der König, daß, seit die Jungfrau erschien, sein Sohn Condla mit niemandem redete, der ihn ansprach. Daher sagte Conn, der Sieger in hundert Schlachten, zu ihm: »Geht es dir zu Herzen, was die Jungfrau sagt, mein Sohn?« »Es liegt schwer auf mir,« sprach Condla darauf, »ich liebe mein Volk über alles, und dennoch, und dennoch ergreift mich ein Sehnen nach der Jungfrau.« Als das die Maid vernahm, antwortete sie und sprach: »Der Ozean ist nicht so wild wie die Wogen deiner Sehnsucht. Komm mit mir in meinen Kahn, meinen glimmernden, geradeausgleitenden Kristallnachen. Bald können wir Boadags Reich erreichen. Ich sehe die strahlende Sonne sinken, aber so fern es ist, wir können es erreichen, bevor es dunkelt. Es ist noch ein anderes Land, das deine Reise wert ist, ein Land, das allen, welche es[44] aufsuchen, Ergötzen bereitet. Nur Weiber und Mägde wohnen dort. Wenn du willst, so können wir es aufsuchen und dort ganz allein zusammen in Wonne leben.« Als die Maid aufhörte zu reden, da stürmte Condla mit dem Feuerhaar von ihnen hinweg und sprang in den Kahn, den glimmernden, geradeausgleitenden Kristallnachen. Und dann sahen alle, der König und sein Hof, wie er hinausglitt über das schimmernde Meer der untergehenden Sonne entgegen. Weiter und weiter, bis ihn kein Auge mehr zu sehen vermochte, und Condla und die Jungfrau nahmen ihren Weg über das Meer und wurden nie mehr gesehen und niemand konnte erfahren, wohin sie gelangten.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Märchen, Schwänke und Fabeln. München 1925, S. 43-45.
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