Einleitung.

[8] Die sogenannten deutschen Ostseeprovinzen Rußlands haben eine sehr verschiedenartige Bevölkerung. Deutsche, Russen, Juden – vor allem aber die eigentlichen Autochthonen, Esthen und Letten – sind auf dem flachen Lande sowohl als auch in Flecken und Städten ansässig; nur gering an Zahl sind die früher vagierenden, jetzt wohl oder übel zur Seßhaftigkeit gezwungenen Zigeuner, deren es namentlich in Kurland noch einige hundert Köpfe geben mag. Die bei weitem größte Ziffer entfällt auf die Esthen, in der Provinz Esthland und der nördlichen Hälfte Livlands wohnend, und auf die noch zahlreicheren Letten, welche Südlivland und Kurland (Lettland) bevölkern. Berechnet man die Bewohner Livlands auf rund 1200000, so entfallen davon allein auf die Letten, welche doch nur in der südlichen Hälfte der Provinz vorkommen, gegen 491000, während in Kurland, das eine Gesamtbevölkerung von rund 700000 Köpfen haben mag, gegen 480000 Letten wohnhaft sind. Ferner siedeln cirka 266000 Letten in den Gouvernements Witebsk, Pskow, Kowno und im Königreich Preußen (Kurische Nehrung). Die Gesamtzahl der heute noch vorhandenen Letten würde demnach auf mehr als 11/4 Millionen zu schätzen sein, vielleicht auch, wie der lettische Forscher Grunding will, auf beinahe 13/4 Millionen.

Dieses reich beanlagte aber allzu weiche – und infolge tragischer Schicksale erst spät in die Kultur eingetretene Volk ist ein Zweig des litoslawischen Stammes, vielleicht gar der Hauptzweig, wenigstens in grauer Vorzeit; denn nach den[9] neuesten Forschungen des Königsberger Professors Bezzenberger wären Letten schon vor fünftausend Jahren (also tausend Jahre nach Erbauung der Stadt Memphis) in Ostpreußen seßhaft gewesen. Wie dem auch sei, in jedem Falle sind sie später durch Stämme ugrisch-finnischer Herkunft (Esthen, Liven, Kuren) von den Küsten Livlands und Kurlands ins Innere verdrängt worden, denn als lübische Kaufleute vor 1184 in die Dünamündung einliefen, saßen dort nicht Letten, sondern Liven. Nachkommen der letzteren, wenn auch sehr gering an Zahl, findet man heute noch an der Nordküste Kurlands. Aber dieses weiche Volk besaß und besitzt eine ungemeine Zähigkeit; es nahm seine ursprünglichen Wohnsitze bald wieder ein, teilweise gefördert durch die deutschen Eroberer, welche in ihm ein willigeres Kulturmaterial fanden, als in den Liven oder den Semgallen. Ursprünglich eine Handelskolonie, dann, nach Gründung des Bistums Riga, eine Art Kirchenstaat im kleinen, endlich, nachdem der »Schwertbrüderorden«, welcher dem Rigaschen Bischof stets bereite Kriegsmannschaft sichern sollte, in dem »Deutschen Orden« aufgegangen, halb Kirchen-, halb Ordensstaat, wurden Livland und Kurland der Schauplatz unaufhörlicher blutiger Kämpfe, die um so beklagenswerter erscheinen, als sie zum großen Teil den Charakter von Bürgerkriegen trugen. Der Erzbischof stritt mit dem Orden, die Hansastadt Riga, in welcher sich bald ein kräftiges Bürgertum entwickelt hatte, mit beiden um Land und Leute, um Rechte und Privilegien. Dann folgten Verteidigungskriege gegen äußere Feinde, Russen, Polen, Schweden, welche die günstige Lage der Ostseeländer sehr wohl erkennend, dieselben nur zu gern in ihren Besitz gebracht hätten. Vorübergehend ist es den Schweden und Polen auch gelungen, während die Russen, anfangs wiederholt besiegt und hinausgedrängt, endlich den Preis davon trugen. Peter der Große brachte 1721 (Frieden zu Nystadt) Esthland und Livland an sein Zarenreich, während sich Kurland, welches von 1562 an ein souveränes,[10] zuerst in der Familie Kettler, dann in der Familie Biron erbliches Herzogtum gewesen, im Jahre 1795 freiwillig der russischen Krone unterwarf. Seitdem konnten die Provinzen, unter mächtigem Schutze stehend, sich andauernden Friedens und stetig wachsenden Wohlstandes erfreuen.

Was aber war im Laufe so vieler, von Kämpfen aller Art erfüllter Jahrhunderte aus den Autochthonen, den Esthen und Letten, geworden?

Ein höriges Bauernvolk, auf welches die herrischen Eroberer, die Priester und Ordensritter, wie auf Bestien, im günstigsten Falle wie auf Haustiere herabsahen. In furchtbaren Kämpfen waren Letten und Esthen niedergezwungen, Liven und Kuren fast ausgerottet, die trotzigen litauischen Semgallen mit Stumpf und Stiel vertilgt worden – nun sank auf die Überlebenden und deren Nachkommen eine vielhundertjährige Nacht der Knechtschaft herab.

Aber die zähe, gesunde Natur der Letten überwand auch diese grause und finstere Periode. Trotzdem noch im neunzehnten Jahrhundert die deutschen Ostseeprovinzen Rußlands ein Paradies des Großgrundbesitzes und der Feudalherrschaft blieben, wurde doch, dem Zeitgeist entsprechend, mehr für Volksbildung gethan, als früher, ja manche Edelleute und Geistliche wirkten auf diesem Gebiet mit größtem Reformeifer. Der Lette, einmal zur Bildung zugelassen, entfaltete schnell die ganze Elasticität seiner Natur, die ganze mehr zähe als leidenschaftliche Energie seines sonst so weichen, passiven Charakters. In den sechziger und noch mehr in den siebenziger Jahren unseres Säkulums drängten sich immer mehr begabte Männer aus jenem »verachteten« Volksstamme zu höherer und höchster Bildung heran; es entstand allmählich eine »lettische Gesellschaft«, welche sich in dem großen »Lettischen Verein« zu Riga einen Mittelpunkt und realen Halt schuf, es wurden lettische Zeitungen, Zeitschriften, endlich ein lettisches Theater gegründet. Wissenschaftlich gebildete Letten erforschten die Vergangenheit ihres Volkes, seine Geschichte[11] und Mythologie, sammelten und kommentierten seine Sagen, Märchen und Lieder.

Heute giebt es Letten in allen bürgerlichen Ämtern und Stellungen, als Landpfarrer, Advokaten, Ärzte, Journalisten – auch so manches Rittergut ist im Laufe der letzten Jahre in lettische (also ursprünglich »bäuerische«) Hände übergegangen, ihre junge Litteratur aber hat einen glänzenden Aufschwung genommen. Der lettische Dramatiker und Novellist Rudolf Blaumann und die Dichterin Elsa Rosenberg (Pseudonym »Aspasia«) könnten jeder Nationallitteratur zur Zierde gereichen.

Wie schon oben bemerkt, gehören die Letten dem litoslawischen Stamme an, sind also, im Gegensatze zu den Esthen, vollbürtige Indogermanen; ihre weiche, formenreiche Sprache klingt zwar etwas breit und gequetscht, weist aber manche Ähnlichkeit mit dem Sanskrit auf. Folgende Verse mögen dem deutschen Leser ein ungefähres Klangbild derselben liefern, wobei zu bemerken ist, daß die Aussprache des ee zwischen ia und ie schwankt, o wie ua, mit dumpfem U-Laut, klingt, 8 scharf gesprochen wird und z den weichen S-Laut repräsentiert. Der Rhythmus ist folgender:


Einleitung

»Deews, swehti Latwiju,

Muhs' dahrgo tehwiju!

Swehti jel Baltiju,

Ak, swehti jel to![12]

Kur latwju meitas seed,

Kur latwju dehli dzeed,

Laid muhs tur leimê deet

Muhs' Baltijâ!«


Zu Deutsch: »Gott segne Lettland, unser teures Vaterland! Er segne auch das Baltenland, ja, er segne es reich! – Wo Lettenmädchen blühen, wo Lettensöhne singen, dort laß' uns im Glücke fröhlich sein – in unserm Baltenlande!«

Es ist das die sogenannte lettische Nationalhymne, Text und Musik von Karl Baumann.

Über die Mythologie der alten Letten ist vieles beigebracht, aber noch weniges abgeschlossen worden. Als höchsten und mächtigsten Gott haben sie ohne Zweifel den Donnerer Pehrkon, als furchtbarsten den Tod, Verderben und Krankheit bringenden Pikkuls verehrt, während der Gott der Freude und des Rausches, Trimpus, als ursprüngliche Gottheit von mancher Seite noch angezweifelt wird. Auch der Streit über Lihgo, der ebenfalls ein Gott der Lust und Fülle gewesen sein mag, ist noch nicht abgeschlossen. Sein Name kommt hauptsächlich in den Johannisfestliedern als eine Art Refrain vor, woraus man in neuester Zeit geschlossen hat, daß dieses Wort überhaupt keinen Namen, sondern nur eine Interjektion, einen Freudenlaut, bedeute.

Völlig unantastbar steht dagegen wieder die Glücksgöttin Laima, auch die Schutzpatronin der Gebärenden, die Hüterin des häuslichen Herdes und Eigentumes da. Ihr Name, sowie derjenige des Pehrkon haben sich auch bis auf den heutigen Tag in der Volkssprache erhalten. »Laime« bedeutet Glück und »Pehrkon« – Gewitter. Neben diesen »großen Göttern« wird es wohl noch viele niedere Naturgottheiten gegeben haben, z.B. die Sonne und ihre Töchter, der Mond, die Morgenröte u.a.m. Ein Volksepos im Sinne der »Kalewala« der Finnen und des »Kalewipoeg« der Esthen, hat sich bei den Letten nicht erhalten, trotzdem es ihnen, wie manche Märchen zeigen, an Heldensagen nicht gefehlt zu haben[13] scheint. Ungeheuer groß dagegen ist die Zahl der Volkslieder, Vierzeiler, Sprüche, Zauberformeln, meist in vierfüßigen Trochäen abgefaßt, eine unerschöpfliche Schatzkammer für jeden Freund unverfälschter Volkspoesie.

Ihrer indogermanischen Abstammung entsprechend, finden sich in den Volksmärchen der Letten viele Anklänge an ähnliche Märchen ihnen stammverwandter Völker, die Sagen von Kurbad und vom Bärenmenschen gemahnen stellenweise an die Herakles- und Theseusmythe; die in Gestalt einer Maus wandernde Seele findet sich schon bei den Indern; Werwolfgeschichten kennt auch die romanische und deutsche Märchenlitteratur und von Vampiren wissen polnische, serbische, griechische Sagen zu erzählen.

In den folgenden Blättern wird zum erstenmal der Versuch gewagt, dem deutschen Publikum eine Blütenlese aus dem üppigen Garten lettischer Märchendichtung darzubieten. Es handelt sich dabei nur um Volksmärchen und Sagen, nicht um Erdichtungen neuerer lettischer Schriftsteller. Auch die in einigen Märchen vorkommenden Lieder sind echte alte Volkslieder. Die Form freilich, in welche diese uralten Überlieferungen hier gekleidet erscheinen, die Art und Weise der Wiedergabe in fremder Sprache, einem fremden, d.h. allem Lettischen mehr oder weniger fernstehenden Publikum gegenüber, ist mein ausschließliches Eigentum. Meine Quellen waren die von Lerch-Puschkaitis in lettischer, von Brihwzemneeks in russischer Sprache herausgegebenen Sammlungen, sowie auch mündliche Überlieferungen.


Rittergut Saweneeken. Kurland.

Im Sommer 1895.

V. v. A.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 8-14.
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