[425] 900. Der entführte Jüngling.

Vor etwa achtzig bis neunzig Jahren, als es noch Brauch war, die Pferde des Nachts in die Wälder auf die Weide zu führen, trieben eines Abends vier junge Burschen aus Medernach ihre Pferde in den Wald, im Ort genannt Kreuzergrund. Damals war an diesem Ort nicht alles, wie heute, mit Waldungen angepflanzt, denn es befand sich dort noch eine große, lichte Stelle, die mit üppigem Gras bewachsen war und an dem Abend, wo unsere Burschen sich mit den Pferden dort aufhielten, von dem Mond so hell beleuchtet wurde, daß man ganz gut in einem Buch hätte lesen können. Um die Langweile zu vertreiben, zog der eine der Burschen ein Spiel Karten aus der Tasche und schlug vor, ein Spielchen zu machen. Die andern waren's zufrieden. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf den Gang des Spieles. Auf einmal raschelte es im nahen Walde, als ob einige Hasen durch das Laub huschten. Da bei der nächtlichen Stille jedes auch noch so geringe Geräusch leicht auffällt, so richteten die vier Spieler fast zugleich ihre Blicke nach jener Gegend hin, woher das Geräusch kam, und sieh! zwei überaus schöne und herrlich gekleidete Damen traten aus dem Wald heraus. Einer von den vier Spielern, ein noch ganz junger, verwegener und lebenslustiger Bursche, warf die Karten beiseite, lief auf die ihm unbekannten Damen zu, ergriff eine derselben um den Leib, um einen lustigen Tanz mit ihr auszuführen. Einige Augenblicke schien die Dame hiermit einverstanden zu sein, dann aber ergriffen beide den Kecken und entführten ihn blitzschnell durch die Luft. Als seine Kameraden dies sahen, liefen sie schnell zu ihren Pferden, trieben dieselben und die ihres entführten Gefährten dem Dorfe zu und erzählten dort unter Angst und Schrecken das Ereignis. Ihr Kamerad schien verschollen. Jedoch nach vier Tagen erschien derselbe wieder im Dorfe, aber ganz trübsinnig und verunstaltet, denn seine sonst gerade Gestalt war gebeugt und hatte einen ziemlich großen Höcker.

Er erzählte: »Als ich von den zwei Hexen – denn so muß ich diese[425] zwei Frauen nennen, die mich entführt hatten – so pfeilschnell in die Luft gehoben wurde, meinte ich, Hören und Sehen zu verlieren. Dem Fluge einer Schwalbe gleich, ging es in den oberen Regionen fort, bis etwa nach zwei bis drei Stunden sich dieselben mit mir in einer mir ganz unbekannten Gegend mitten im Felde niederließen. Eine von den Frauen berührte, in dem sie unverständliche Worte murmelte, mit ihrer Hand meinen Rücken und dann verschwanden beide. Ich aber fiel in einen tiefen Schlaf. Bei meinem Erwachen fühlte ich eine Last auf dem Rücken, als habe mir jemand dort einen tüchtigen Ranzen angeschnallt. Ich richtete mich auf und, o weh! es war kein Ranzen, sondern ein wohlangewachsener, fleischiger Höcker. Lange saß ich da und dachte über meine traurige Lage nach, als ein Mann daherkam. Diesen fragte ich, in welcher Gegend ich mich befände, worauf ich erfuhr, daß ich in der Umgegend von Trier niedergestiegen sei. Zuletzt raffte ich mich auf und wanderte betrübt und traurig der Heimat zu, überall, wo es nur möglich war, mich von den Menschen fernhaltend, um nicht über mein Abenteuer sprechen zu müssen und auch weil ich mich meiner Mißgestalt schämte. Unter vielen Beschwerden und Leiden kam ich wieder hier an.«

Seit dieser Zeit war der Mut und der Frohsinn des sonst so lustigen Burschen entflohen. Auch sprach er ungern von diesem Ereignis.


Lehrer N. Massard zu Medernach

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 425-426.
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