[491] 1026. Gründung der Abtei zu Clairefontaine.

Als einst die Gräfin Ermesinde von Luxemburg auf ihrem Schlosse Bardenburg weilte und in dessen Nähe lustwandelte, setzte sie sich an den Rand einer Quelle in den Schatten einer dichtbelaubten Eiche, um, da der Spaziergang sie ermüdet hatte, etwas auszuruhen. Bald war sie eingeschlafen, und hatte folgenden Traum. Sie sah eine hohe und ausnehmend schöne Frauengestalt mit einem Kinde auf dem Arme von der nahen Anhöhe herabsteigen und der Quelle, an welcher die Gräfin saß, zuschreiten. Entzückt über diesen Anblick, bemerkte Ermesinde plötzlich, wie sich eine Herde Lämmlein um die schöne Gestalt scharte. Auf Rücken und Brust waren die Lämmer mit einem zweihandbreiten, schwarzen, skapulierähnlichen Streifen gezeichnet, sonst war ihr ganzer Körper weiß wie Schnee. Die Gräfin bemerkte, wie die himmlische Gestalt mit besonderem Wohlgefallen die Lämmlein betrachtete und eins nach dem anderen streichelte. Da plötzlich verschwand die Erscheinung, und sie erwachte.[491]

Überzeugt, daß Gott, der oft im Traume den Menschen seinen Willen offenbarte, auch ihr etwas Geheimnisvolles habe andeuten wollen, suchte sie einen Einsiedler auf, der im Geruche der Heiligkeit stand und abgeschieden von der Welt an dem Orte lebte, wo sich später die Abtei Clairefontaine erhob. Nach einem kurzen Gebete erhob sich der Klausner und sagte: »Ihr Traum, hohe Frau, ist wunderbar. Die Frau, die Ihnen erschienen, ist die allerseligste Jungfrau Maria, und die schwarzgestreiften Lämmlein bedeuten Jungfrauen, welche sich unter dem Ordensgewande des hl. Bernhardus dem Herrn geweiht haben. Die hl. Jungfrau ist diesem Orden besonders zugetan und ist dessen mächtige Beschützerin. Gründen Sie an diesem Orte eine Abtei; ein verdienstvolleres Werk können Sie nicht vollbringen. Heilige Jungfrauen werden dort ewig des Herrn Lob singen, und an ihren Verdiensten werden Sie und ihre Nachkommen Anteil haben.«

Ermesinde nahm diese Deutung wie einen Orakelspruch entgegen und schickte sich sofort an, an diesem Orte eine Kirche und ein Frauenkloster zu gründen. Nachdem die Kirche erbaut war, ließ man dort ein Bild malen, auf dem man die Erscheinung, welche Ermesinde an der Quelle gehabt, mit allen Nebenumständen darstellte.


Bertholet, Histoire ecclés. et civile du duché de Luxembourg IV, 425

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 491-492.
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