[87] 202. Das Eismännchen in Ehnen.

Ein armer Witwer saß zu Ehnen am Vorabende des hl. Christfestes mit seinen fünf unmündigen Kinderlein zu Tisch und beklagte sich bitterlich, daß morgen, während doch jedermann einen fetten Braten im Topfe habe, er und seine zahlreiche Familie mit den alltäglichen »Gequellten und Brach« vorliebnehmen müßten.

Er war eben daran, über die Ungleichheit, womit Gott seine Gaben ausgeteilt, nachzugrübeln und sich einen Verstoßenen zu nennen, als er plötzlich in dem kleinen Hausflur ein ziegenähnliches Meckern hörte.

Draußen aber sauste und pfiff der Wind, als wäre der jüngste Tag hereingebrochen, und in der vereisten Mosel hörte man ein geheimnisvolles Krachen und Donnern. Der Witwer trat hinaus und gewahrte zu seinem Erstaunen eine prächtige, junge Ziege, welche in eine Ecke gekauert dalag und nicht von der Stelle wich. Sie gab natürlicherweise zum kommenden Festtag einen leckeren Bissen.

Wer aber die Ziege gesandt, woher sie gekommen, konnte nicht ermittelt werden. Das Volk jedoch erzählt sich, es sei das sogenannte Eismännchen gewesen, welches diese willkommene Gabe gesandt. Nach der Sage nämlich ist dieses ein kleines, unansehnliches Männlein mit großem, weißem Barte,[87] welches im Winter, wenn die Mosel zugefroren ist, in einer Eisspalte wohnt, des Nachts seine kalte Wohnung verläßt und die Runde im Dorfe macht, um armen Witwern und Waisen in ihrer Not mit Rat und Tat beizuspringen.


J. Weyrich aus Ehnen

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 87-88.
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