[257] 615. Das schwarze Pferd im Kreuzgrund zu Medernach.

Im Kreuzgrund östlich von Medernach erschien vor alter Zeit dem Wanderer, wenn er sich abends verspätet hatte, ein ungemein großes, schwarzes Pferd, das überaus reichlich und glänzend gesattelt und aufgezäumt war. Kam der Wanderer von Süden, so kam ihm das Pferd von Norden entgegen; kam er von Osten oder Westen, so kam ihm immer das Pferd von entgegengesetzter Richtung entgegen, so daß er nicht ausweichen konnte, er hätte denn umkehren müssen. Bei dem späten Wanderer angelangt, drehte sich das Pferd um, blieb stehen und deutete durch Kopfnicken an, er möchte es besteigen. Kam nun so ein kecker Bursche, der im Dorf zu lang im Wirtshaus beim Glase verweilt und sich einen kleinen Rausch angetrunken hatte, was seinen Mut hob, so bestieg wohl hie und da ein solcher das Pferd. Dieses trug ihn einige Schritte ruhig und sittsam, dann aber schüttelte es sich gewaltig und warf den kühnen Reiter in den nahen Graben, der beständig mit schmutzigem Wasser oder mit Schlamm angefüllt war, und verschwand. Entweder von Wasser triefend oder vom Schlamm besudelt, schlich dann der Abgeworfene beschämt nach Hause, das Pferd verwünschend, das ihm[257] diesen Streich gespielt. Ging man aber ruhig an dem Pferde vorbei, ohne seine Winke zu beachten, so ging es davon und verschwand.

Andern erschien es ruhig dastehend, als sei es auf einmal aus der Erde hervorgekommen. Blieb der Wanderer dann ebenfalls stehen und schaute es in die Augen, so vergrößerte es sich, daß man meinte, es reiche mit dem Kopf an die Wolken, und nahm dann auch wieder allmählich ab, bis es gänzlich verschwunden war.


Lehrer N. Massard zu Medernach

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 257-258.
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