VI. Der goldene Adler.

[22] In einer gewissen Stadt befand sich ein gewisser Schuster; der hatte drei sehr schone Mädchen. Einst kam ein feiner Herr bei ihnen vorbei; als er die drei Mädchen erblickte, fand er an einer von ihnen Gefallen und wollte sie heiraten. Er trat beim Schuster ein und liess sich drei paar Schuhe anmessen. Beim Weggehen sprach er: »Meister, ich wünsche, dass du die eine deiner Töchter an mich verheiratest!« »Wie kann das sein? Du bist ein feiner Herr, und ich ein Schuster!« »Willst du sie an mich verheiraten!« »Aber, Herr, warum sollte ich nicht wollen!« Und der gepriesene Herr heiratete das Mädchen und nahm es mit sich nach dem Palaste, den er in einem gewissen ländlichen Distrikte besass.

Auf der Reise dorthin begann die Frau, als sie die Einöde zu durchwandern begonnen hatten, zu jammern: »Wie hässlich ist's hier! Ich bekomme Heimweh!« ›Hab' keine Angst!‹ erwiderte ihr der Herr; »hier ist's ja hässlich, aber bald wirst du sehen, wie schön es da, ist, wohin ich dich führe!« So wanderten sie weiter – wandere weiter und hol' einen, der weiter wandert! – bis sie schliesslich nach jenem Palaste gelangten: Tore aus Gold, Türklopfer aus Gold, Möbel aus Ebenholz, Türvorhänge aus Brokat, vergoldete Sessel, ein Bett, das nicht seinesgleichen hatte, – kurz, alles vom feinsten!

Als die junge Frau diese Pracht sah, empfand sie grosse Freude. Noch an demselben Tage aber rief sie der Herr herbei und sprach zu ihr: »Höre, mein Kind! Ich bin der Hauptmann einer Diebesbande! Den ganzen Tag über werde ich bei dir sein, aber zur Nachtzeit ziehe ich auf Diebstahl aus. Dieser Palast ist dir ganz zu eigen; öffne jedes Gemach; geh' überall hin! Aber pass' auf, dass du nicht etwa dieses Zimmer hier öffnest, denn dann fiele es auf dein Haupt zurück! Wenn ich nach Hause komme, so passe ja ordentlich auf, dass du meinen Pfiff hörst;[22] denn bist du nicht hurtig im Öffnen, so schneide ich dir den Kopf ab!« Die Frau bekam einen grossen Schreck, doch redete sie sich Mut ein und begann den Palast zu durchwandern, als der Räuber auf Diebstahl gegangen war. Nachdem die Frau tüchtig herumgewandert war, wurde sie müde; sie setzte sich in einen Sessel, und die Augen fielen ihr zu. Als der Räuber seinen Raub vollendet hatte, begab er sich nach Hause, tat einen langen Pfiff und wartete, dass man ihm die Tür öffne. Aber die Frau hörte ihn nicht, weil sie schlief. Da geriet der Räuber in grossen Zorn, zerschmetterte die Tür, eilte ins Haus hinauf und begann seine Frau im ganzen Hause zu suchen, bis er sie schliesslich schlafend vorfand, – und ohne Verzug schnitt er ihr den Kopf ab und verscharrte sie.

Am folgenden Morgen begab sich der Räuber zum Schuster und sprach zu ihm: »Schwiegervater, deine Tochter befindet sich in bester Stimmung, aber sie hätte doch gern noch eine Schwester bei sich.« Sofort kam eine von den Töchtern des Schusters herbei und sprach: »Vater, soll ich mitgehen?« »Jawohl! Geh' mit, meine Tochter!« Dann brachen jene beiden auf. Während sie dahinwanderten, begann das Mädchen dieselben Worte, wie ihre Schwester, zu sprechen. Dann kamen die beiden in den Palast. Der Räuber führte das Mädchen überall herum; er erzählte ihr auch, dass er ihre Schwester getötet habe; weil sie ihm nicht gehorcht habe; er berichtete ihr, dass er ein Räuber sei und – kurz und gut – sagte ihr genau dasselbe, was er ihrer Schwester gesagt hatte. Er zog hernach auf Raub aus, und das arme Mädchen wurde des Wartens überdrüssig und schlief ein. Als er wiederkam und sie schlafend fand, tötete er sie auch.

Etwa nach zwei Tagen begab sich der Räuber wieder zum Schuster und sagte ihm: die beiden Töchter schickten nach ihrer dritten Schwester, damit sie sich alle zusammen amüsieren könnten. Schliesslich – es machte sich bald – brach auch die dritte Tochter des Schusters mit dem Räuber auf. Die beiden schlugen denselben Weg ein; aber, statt dass die dritte sich schwere Gedanken gemacht hätte, zeigte sie die froheste Stimmung auf dem Marsche und sprach: »Wie hübsch ist's hier! Wie mir's hier gefällt!« Als der Räuber diese Rede hörte, begann er: »Ja, ja! Die ist recht! An der werde ich meine Freude haben, denn sie macht mir's sicher nicht so, wie ihre Schwestern!« – Damit ich[23] nun nicht zu weitläufig werde, (will ich kurz berichten, dass) er sie überall herumführte und schliesslich zu ihr sprach: »Höre! Ich bin ein Räuber! Deine Schwestern habe ich töten müssen, weil sie mir nicht gehorchten! Geh' überall hin; öffne, nimm, betrachte alles, sieh' dich um! –, aber hüte dich, dass du die Tür da öffnest, denn dann töte ich dich auch! Jetzt gehe ich fort; gib hübsch acht, dass du, wenn du mich pfeifen hörst, sofort bereit bist, mir die Tür zu öffnen!« Als der Räuber sie verlassen, machte sie sich daran, den Palast zu durchwandern; sie betrat jeden Raum, bis sie zuletzt vor jene treffliche Tür gelangte. »Jetzt sollte ich mich nicht hineinwagen?« rief sie aus; »wie sollte er wohl erfahren, dass ich hineingegangen sei!«

Damit ging sie hin und holte sich einen Bund Schlüssel – probiere und hol' einen, der probiert! – und öffnete zuletzt die Tür. Als sie sie geöffnet hatte, erblickte sie einen gar schönen Jüngling, von einigen zwanzig Jahren: sein Haar war gelb wie Gold, seine Augen blau; er hatte einen schönen Anzug an; sein Gesicht konnte man für die Sonne halten, – kurz und gut: schön bis zum letzten Punkte! Als sie diesen so schönen Jüngling erblickte, geriet sie fast ausser sich vor Freude; der Jüngling aber sprach zu ihr: »Was hat dich hierher gebracht? Dich erwartete ich immerfort, um von hier wegkommen zu können; denn es sollte ein schönes Mädchen zu mir kommen, um mich aus der Gefangenschaft dieses Räubers zu befreien, der mich hier eingeschlossen hält! Ich bin der Königssohn, und jetzt werde ich dich zu meinem Vater bringen, und du wirst meine Frau werden!«

Die beiden fanden ein Pferd; sie bestiegen es und lenkten dessen Lauf nach dem Königspalaste. Als der König seinen Sohn erblickte, empfand er grosse Freude; er verheiratete ihn an jenes Mädchen; dann sandte er nach dem Schuster und erklärte ihm, dass er nicht wünsche, er möge weiter arbeiten, – und er wies ihm ein grosses Zimmer in seinem Palaste an.

Jetzt wollen wir nach dem Räuber sehen! Als er nach seinem Palaste kam und alles offenstehen sah, dachte er sich, was geschehen war. Er stieg eilends in das Zimmer hinauf und fand es eben leer. Da wurde er gar zornig und verschwur sich, Rache zu nehmen und die beiden zu töten. Da er nun wusste, dass jener Jüngling der Königssohn war, so konnte er sich denken, wohin die beiden gegangen waren. Was machte er nun? Er begab[24] sich zu einem Goldschmied und trug ihm auf, einen grossen Adler aus Gold anzufertigen, – im Innern solle er hohl sein, und eine Türe solle er haben, damit man hineinkriechen und sich in ihm verstecken könne. Als der Adler fertig war, begab sich der Räuber zum Könige und sagte diesem, er habe einen goldenen Adler zu verkaufen. Der König wollte den Adler sehen und bestellte den Räuber. Letzterer rief einen Karrenkutscher her; dann schaffte er den Adler hinauf in den Palast, kroch in ihn hinein und gelangte (so in den Palast). Dem Könige gefiel der Adler, er kaufte ihn und trug seinen Leuten auf, ihn hinauf in das Gemach seines Sohnes und dessen Gemahlin zu schaffen.

Als die beiden in der Nacht schliefen, wollte der Räuber aus dem Adler herauskriechen und öffnete leise die Tür. Während er aber öffnete, verursachte er ein Geräusch, und die Frau des Königssohnes wurde darauf aufmerksam. Sie weckte ihren Gemahl und sagte ihm, dass der Adler, den sie gekauft hätten, beständig Geräusche von sich gebe. Da schrie der Prinz, und eine Menge Soldaten kamen herauf, öffneten den Adler und fanden den Räuber in ihm verborgen. Jedermann erkannte, dass dieser der bekannte Räuber war; man nahm ihn fest, band ihn, schaffte ihn nach dem Platze und hing ihn auf.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 22-25.
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