10. Die Heirat der Sonne.

Aus Mazedonien.


Alle Geschöpfe waren der Sonne um ihres Lichtes und ihrer Wärme willen dankbar; sie kamen an einem Frühlingstage in der Nähe des Meeres zusammen und beschlossen auf Veranlassung des Hahnes, ihr etwas Gutes zu erweisen. Während sie sich berieten, trat der Igel auf und sagte: ›Alle Geschöpfe hat Gott gesegnet, daß sie sich verheiraten und vermehren sollen, die arme Sonne ist seit Erschaffung der Welt immer allein. Wir wollen sie verheiraten, damit sie auch gleich uns allen Freude erlebe.‹ Die Tiere stimmten zu, nur der Löwe schwieg nachdenklich, und der Bär fragte: ›Was denkst du, erhabener König, von dem Vorschlag des Igels?‹ Der Löwe sagte: ›Wenn wir die Sonne verheiraten, werden viele Sonnen geboren werden, und wir werden alle lebendig verbrennen. Schon jetzt können wir, wenn die eine Sonne heiß brennt, sie nicht ertragen, und wenn gar viele Sonnen sind, wie werden wir sie aushalten? Das ist meine Meinung!‹ Und alle riefen: ›So ist es, wir wollen sie nicht verheiraten.‹ Als die Sonne das gehört hatte, tauchte sie unwillig in das Meer, und es wurde auf einmal Nacht. Die Tiere gerieten in Angst und Schrecken. Aber der Hahn sprach: ›Seid unbesorgt! Ich werde ihr morgen früh mein Lied singen und die Sonne aus dem Meere hervorholen.‹ Er sang also sein Lied, aber die Sonne erschien nicht. Darum schlug er einen anderen Weg ein. Am anderen Morgen badete er im Meere und schüttelte dann die Flügel, sie zu trocknen. Das bemerkte die Sonne und fragte: ›Warum schlägst du so traurig deinen Leib und bist unmutig?‹ Der Hahn antwortete: ›Meine Freunde wollen mich verheiraten, um mich auf diese Weise zuschanden zu machen. Ich preise die Ledigen. Besseres gibt's nicht. Verflucht seien, die mich verheiraten wollen!‹ Als die Sonne das hörte, freute sie sich, daß sie nicht zu heiraten brauchte, und schien wieder wie zuvor, alle Morgen. Noch jetzt schlägt der Hahn, bevor er singt, mit den Flügeln. Das ist eine Erinnerung an jene Geschichte. Er denkt immer noch, daß er naß sei [22] und sich trocknen müsse, ehe er sein Lied beginne. Der Igel aber schämt sich vor den anderen Tieren, und bis heute birgt er sein Gesicht in den Stacheln, wenn er jemand kommen sieht.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Naturgeschichtliche Märchen. 7. Aufl. Leipzig/Berlin: 1925, S. 22-23.
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