335. Jüngling trägt glühend Eisen.

[410] Thomas Cantipratensis S. 384.


Auf der Gränze des Herzogthums Burgund hat sich folgende Geschichte zugetragen.

Ein Jüngling, der von Kindesbeinen an in dem Benedictinerorden war, und deßhalb gar fromm und einfältiglich lebte, ging einst mit dem Abte des Klosters auf Reise, um sich zu erholen und zu zerstreuen. Bei einer Schmiede hielten sie an und ließen ihre Pferde beschlagen. Da lag ein glühend Stück Eisen auf der Erde, und der einfältige Jüngling verwunderte sich höchlich darob, denn er hatte solches nie gesehen, und nahm es[410] in die Hand und beschaute es von allen Seiten, ohne daß er sich daran verbrannt hätte. Das däuchte dem Abte und allen Umstehenden sehr wunderbar, und er mußte es mehrmals wiederholen und verwundete sich nicht.

Darnach, als der Abt anderswo beschäftigt war, trat der Jüngling ins Haus, wo die Schmiedefrau mit einem kleinen Kinde auf dem Schooße saß. Solch ein Kind hatte er auch noch nicht gesehen, und erstaunte und hatte viele Freude daran und spielte gar freundlich damit. Da fragte ihn die Schmiedefrau, ob er auch so ein Kind haben wollte, und der Jüngling sprach: »Gewißlich gerne.« Da nahm ihn das Weib mit in ihre Kammer und unterwies ihn zur Unkeuschheit und raubte ihm also seine Unschuld, ohne daß der Jüngling Arg dabei gehabt hätte.

Als dieß geschehen war, trat er wieder vor das Haus und wollte noch einmal ein glühend Eisen anfassen, aber da verbrannte er sich jämmerlich und schrie auf eine erbärmliche Weise. Der Abt kam alsbald herzu und wußte nicht, was er denken sollte; jedoch erkannte er sogleich, daß der Jüngling nicht mehr im Besitze seiner frühern Unschuld sei. Er führte ihn zurück ins Kloster und fragte ihn genau über alles aus, und der Jüngling gestand einfältiglich alles und büßte seine Sünde mit vielen Thränen.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 410-411.
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