409. Die verlorene Kette.

[495] Mündlich von M. van der Voort.


Ein Bürgermädchen in Antwerpen hatte von seiner Mutter eine goldene Kette geschenkt bekommen. Es war just Sonntag, als sie dieselbe erhielt, und sie trug den neuen Schmuck den ganzen Tag und Abends legte sie ihn sorglich in Baumwolle gewickelt in ihre Kommode. Am andern Morgen hätte sie gerne noch ein bischen ihre Augen daran geweidet; als sie jedoch die Kommode[495] öffnete, war die Kette verschwunden. Da ging das Mädchen zu der Wahrsagerin, um zu erfahren, wer die Kette habe, und die Wahrsagerin sprach: »Die Kette ist schon in der dritten Hand, aber ihr bekommt sie wieder, wenn ihr euch klug anlegt.« Und mit den Worten holte sie ein Kreuz und eine Kerze und einen Leuchter und ein Briefchen Nadeln. Das Kreuz stellte sie vor sich, aber so, daß der Heiland ihr den Rücken kehrte; die Kerze setzte sie auf den Leuchter, und diesen vor den Rücken des Kreuzes, und dann steckte sie alle Nadeln in die Kerze. »Es ist ein gräulich Stück, das hier«, sprach sie dann zu dem Mädchen, »denn jede dieser Nadeln verwundet den Dieb.« – »Das thut nichts«, sprach das Mädchen, »wenn ich nur meine Kette wieder habe.« – »Die bekommt ihr«, versicherte die Wahrsagerin, »geht nur ruhig nach Hause.«

Am Abende des Tages saß das Mädchen mit seiner Mutter am Heerde und sie sprachen eben über die Kette, als der älteste Sohn des Hauses plötzlich athemlos und bleich in die Stube stürzte. Auf die an ihn gerichteten Fragen antwortete er nur: »Der Hund, der Hund mit den glühenden Augen, er ist oben, o der Hund!« – »Was soll denn das sein«, sprach die Frau und öffnete die Thüre, und im selben Augenblicke schoß ein gewaltiger Hund die Treppe hinunter, an ihr vorbei und zur Thüre hinaus. »Gott behüt' uns, der Teufel!« schrie die Frau; aber das Mädchen jauchzte: »Hei, er hat mir die Kette wiedergebracht! Kommt und laßt uns schnell suchen!« Alle bekreuzten sich und gingen hinauf und suchten, und sie fanden nichts; alle Koffer, alle Schränke, die Betten selbst wurden durchgewühlt, die Kette war und blieb weg. »Halt«, sprach endlich die Mutter, »auf dem Boden stehen die Aepfelsäcke, die wir gestern aus dem Garten heraufgetragen haben. Da[496] könnte sie drin sein.« – »Ihr seid sicher närrisch«, lachte das Mädchen, aber die Mutter antwortete: »Man kann nicht wissen. Durch das Suchen ist nichts verloren.« Und die Frau hatte Recht, am Boden eines der Aepfelsäcke lag die Kette in einem Papierchen zusammengedreht.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 495-497.
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