[298] 53. Der Bursche, der um die Tochter der Mutter im Winkel freien wollte

Es war einmal eine Frau, die hatte einen Sohn, und der war so faul und langweilig, daß er überhaupt nichts Nützliches anfangen wollte. Aber zum Singen und Tanzen hatte er Lust, das tat er, so lang der Tag war, und wohl noch eine Weile in die Nacht hinein. Je länger das ging, um so ärmlicher wurde die Frau; der Bursche wuchs, und Essen wollte er haben, daß man es fast nicht auftreiben konnte, und für Kleider ging mehr und mehr drauf, je größer er wurde; lang hielten die Kleider auch nicht, könnt ihr euch denken, denn der Bursche sprang und tanzte in einem fort durch Wald und Feld.

Schließlich wurde es der Frau doch zu arg; sie sagte eines Tages zu dem Buben, nun solle er doch endlich auf Arbeit gehen und etwas Ordentliches anfangen, sonst müßten sie alle beide am Hungertuche nagen. Aber dazu hatte der Bursche keine Lust, er sagte, er wolle lieber um die Tochter der Mutter im Winkel freien, denn wenn er die bekäme, könne er sein Lebtag in Lust und Freuden leben und singen und tanzen und brauche sich nicht mit Arbeit zu plagen.

Als die Mutter das hörte, dachte sie, das wäre nicht einmal so übel, und sie putzte den Burschen heraus, so gut sie konnte, damit er stattlich aussehe, wenn er zur Mutter im Winkel käme; und dann machte er sich auf den Weg.[298]

Als er hinaustrat, schien die Sonne warm und schön; aber in der Nacht hatte es geregnet, so daß der Boden weich war und alle Pfützen voll Wasser standen. Der Bursche schlug den kürzesten Weg zur Mutter im Winkel ein und sang und sprang, wie er immer tat. Aber auf einmal, wie er so dahinhopste und sprang, kam er an einen Sumpf, und darüber lag nur ein Knüppelsteg, und von diesem Steg aus mußte er einen Sprung über eine Pfütze auf einen Grasbüschel tun, wenn er seine Schuhe nicht schmutzig machen wollte. »Plump!« sagte es da. – In dem Augenblick, als er den Fuß auf den Grasbüschel setzte, ging es abwärts und immer abwärts, bis er in einem häßlichen, düsteren, dunklen Loche stand. Zuerst konnte er gar nichts sehen, aber als er ein Weilchen da war, erkannte er eine Ratte, die hin und her schwänzelte und schwanzelte und einen Schlüsselbund am Schwanz hängen hatte.

»Bist du da, mein Junge?« sagte die Ratte. »Dank sollst du haben, daß du kommst und mich besuchst; ich habe lange auf dich gewartet. Du kommst gewiß und willst um mich freien, und hast es wohl sehr eilig, das kann ich mir denken. Aber du mußt nur noch ein wenig Geduld haben, ich soll eine große Aussteuer bekommen und bin noch nicht zur Hochzeit fertig, aber ich will mein Bestes tun, daß die Hochzeit bald sein kann.«

Als sie das gesagt hatte, brachte sie ein paar Eierschalen zum Vorschein mit allerhand Eßbarem, wie es die Ratten fressen; das setzte sie dem Burschen vor und sagte: »Du mußt dich setzen und zugreifen; du bist gewiß müde und hungrig.«

Aber der Bursche hatte keinen sonderlichen Appetit auf diese Speisen. ›Wenn ich nur weg und wieder oben wäre‹, dachte er, aber er sagte nichts.

»Nun möchtest du gewiß wieder heim, denke ich«, sagte die Ratte. »Ich weiß schon, daß du mit Ungeduld auf die Hochzeit wartest, und ich will mich eilen, so gut ich kann. Nimm hier diesen Leinenfaden mit, und wenn du hinaufkommst, darfst du dich nicht umsehen, sondern mußt geradenwegs[299] heimgehen, und unterwegs mußt du immer sagen: ›Vorne kurz und hinten lang.‹« Und damit gab sie ihm einen Leinenfaden in die Hand.

»Gott sei Dank«, sagte der Bursche, als er wieder oben war, »da gehe ich so bald nicht mehr hin.« Aber den Faden hatte er in der Hand, und er sprang und sang wie gewöhnlich. Doch obgleich er nicht mehr an das Rattenloch dachte, kam er doch ins Trällern und sang immerzu:


»Vorne kurz und hinten lang!

Vorne kurz und hinten lang!«


Als er daheim vor der Türe stand, wandte er sich um; da lagen viele, viele hundert Ellen feinster Leinwand, so fein, wie sie die geschickteste Weberin nicht schöner zustande bringt.

»Mutter, komm heraus, komm heraus!« schrie und rief der Bursche. Die Frau kam herausgestürzt und fragte, was denn los sei. Als sie das Gewebe sah, das da lag, so weit ihr Blick reichte und noch ein Stück länger, wollte sie ihren Augen nicht glauben, bis der Bursche erzählte, wie es zugegangen war. Aber als sie das gehört und die Leinwand zwischen den Fingern geprüft hatte, da freute sie sich so sehr, daß sie auch zu singen und zu tanzen anfing.

Dann nahm sie die Leinwand und schnitt sie zu und nähte Hemden davon für sich und ihren Sohn; mit dem Rest ging sie in die Stadt und verkaufte ihn und bekam ein schönes Stück Geld dafür. Nun lebten sie beide eine Zeitlang herrlich und in Freuden. Aber als es damit vorbei war, hatte die Frau keinen Bissen mehr im Hause, und da sagte sie zu ihrem Sohn, nun solle er sich endlich einen Dienst suchen und etwas Ordentliches anfangen, sonst müßten sie alle beide am Hungertuch nagen.

Aber der Bursche hatte eher Lust, zur Mutter im Winkel zu gehen und um ihre Tochter zu freien. Der Frau schien das auch so übel nicht, denn nun war der Bursche stattlich angezogen und sah gar nicht unansehnlich aus. Da putzte sie ihn heraus und richtete ihn her, so schön sie konnte, und er nahm selbst seine neuen Schuhe vor und putzte sie so blank wie[300] Spiegelglas, und als er das getan hatte, ging er. Es war gerade wie das letztemal: Als er hinauskam, schien die Sonne so schön und warm, aber es hatte in der Nacht geregnet, und der Weg war weich und schmutzig, und alle Pfützen standen voller Wasser. Der Bursche schlug den kürzesten Weg zur Mutter im Winkel ein, und er sang und sprang, wie er es immer machte. Er ging einen anderen Weg wie das letztemal, aber wie er so dahinhüpfte und sprang, kam er auf einmal auf den Knüppelsteg über den Sumpf, und von diesem Steg aus mußte er über eine Pfütze auf einen Grasbüschel einen Sprung tun, wenn er seine Schuhe nicht schmutzig machen wollte. »Plumps!« sagte es da. Und er sank abwärts und konnte nicht anhalten, bis er in einem schrecklich häßlichen dunklen Loche stand. Zuerst konnte er gar nichts sehen, aber als er ein Weilchen dagestanden hatte, entdeckte er eine Ratte mit einem Schlüsselbund am Schwanzende, die vor ihm hin und her schwänzelte und schwanzelte.

»Bist du da, mein Junge?« sagte die Ratte. »Willkommen bei uns! Das ist nett von dir, daß du mich so bald wieder besuchst; du bist wohl sehr ungeduldig, das kann ich mir denken; aber du mußt wirklich noch ein Weilchen Geduld haben; denn es fehlt noch eine Kleinigkeit an meiner Aussteuer; aber wenn du das nächstemal kommst, soll alles fertig sein.« Als sie das gesagt hatte, setzte sie ihm in Eierschalen allerhand Eßbares vor, wie es die Ratten fressen und gern mögen. Aber dem Burschen sah es aus wie gegessenes Essen, und er sagte, er habe keinen Appetit. ›Wenn ich nur glücklich fort und wieder oben wäre!‹ dachte er, aber er sagte nichts.

Nach einer Weile sagte die Ratte: »Jetzt willst du wohl wieder hinauf, denke ich. Mit der Hochzeit will ich mich eilen, so sehr ich kann. Aber nun nimm diesen Wollfaden mit, und wenn du hinaufkommst, so darfst du dich nicht umsehen, sondern mußt geradenwegs heimgehen, und unterwegs mußt du immer sagen: ›Vorne kurz und hinten lang!‹« Und damit gab sie ihm einen Wollfaden in die Hand.

»Gott sei Dank, daß ich losgekommen bin«, sagte der Bursche[301] zu sich selber, »dahin gehe ich gewiß nicht mehr«, und dann sang und sprang er wieder wie gewöhnlich. An das Rattenloch dachte er nicht mehr, aber er war ins Trällern gekommen und sang in einem fort:


»Vorne kurz und hinten lang!

Vorne kurz und hinten lang!«


Als er zu Hause vor der Tür stand, schaute er sich zufällig um; da lag der feinste Kleiderstoff, viel hundert Ellen, fast eine halbe Meile lang, und so fein, daß kein Stadtherr einen Rock aus feinerem Stoff haben konnte.

»Mutter, Mutter, komm heraus, komm heraus!« rief der Bursche.

Die Frau trat unter die Tür, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wäre bald in Ohnmacht gefallen vor Freude, als sie all den schönen Stoff sah; und dann mußte der Bursche ihr erzählen, wie er dazu gekommen sei und wie es ihm vom ersten zum letzten gegangen war. Das gab einen mächtigen Wohlstand, könnt ihr euch denken. Der Bursche bekam schöne neue Kleider, und die Frau ging in die Stadt und verkaufte den Stoff Stück um Stück und bekam schweres Geld dafür und putzte ihre Stube heraus und wurde selbst auf ihre alten Tage so stattlich, daß sie eine vornehme Dame hätte vorstellen können. Sie lebten herrlich und in Freuden; aber schließlich hatte auch dieses Geld ein Ende, und eines Tages hatte die Frau keinen Bissen mehr im Hause, und da sagte sie zu ihrem Sohn, er solle sich nun einen richtigen Dienst suchen und etwas Ordentliches anfangen, sonst müßten sie beide am Hungertuch nagen.

Aber der Bursche meinte, es sei viel besser, zur Mutter im Winkel zu gehen und um ihre Tochter zu freien. Diesmal war die Frau auch einverstanden und widersprach dem Burschen nicht, denn nun hatte er neue feine Kleider und sah so stattlich aus, daß es ihr unmöglich schien, daß solch ein schöner Bursch sich ein Nein holen sollte. Da richtete sie ihn her und putzte ihn aufs schönste heraus, und er selbst nahm seine neuen Schuhe vor und wichste sie so blank, daß man sich[302] darin spiegeln konnte, und als er das getan hatte, machte er sich auf den Weg.

Diesmal schlug er nicht den kürzesten Weg ein, sondern er machte einen großen Umweg, denn hinunter zu der Ratte wollte er nicht noch einmal, das Schwänzeln und Schwanzeln und ewige Hochzeitsgerede hatte er satt. Das Wetter und der Weg waren genauso wie die beiden ersten Male. Die Sonne schien, daß der Morast und die Pfützen glänzten, und der Bursche sang und sprang wie gewöhnlich. Und mitten im Hopsen und Springen, ehe er sichs versah, stand er wieder auf dem gleichen Steg, der über den Sumpf führte. Da mußte er über eine Pfütze hinüber auf einen Grasbüschel springen, wenn er seine blanken Schuhe nicht schmutzig machen wollte. »Plumps!« ging es mit ihm abwärts und hörte nicht auf, bis er wieder in dem gleichen häßlichen schmutzigen dunklen Loche stand. Zuerst freute er sich, weil er gar nichts sah, aber als er ein Weilchen dagestanden hatte, entdeckte er wieder die häßliche Ratte mit dem Schlüsselbund am Schwanze, die ihm so widerlich war.

»Guten Tag, mein Junge«, sagte die Ratte, »willkommen sollst du sein; ich sehe, du kannst nicht lange ohne mich leben, dafür sollst du bedankt sein, aber jetzt ist auch alles fertig zur Hochzeit, und wir wollen gleich zur Kirche gehen.« Daraus wird sicher nichts, dachte sich der Bursche, aber er sagte nichts.

Da pfiff die Ratte, und es wimmelten Scharen von kleineren Ratten und Mäusen aus allen Winkeln hervor, und sechs große Ratten brachten eine Bratpfanne gezogen; zwei Mäuse setzten sich als Diener hintenauf, und zwei sprangen vorn auf und lenkten das Gefährt; etliche setzten sich hinein, und die Ratte mit dem Schlüsselbund nahm mitten unter ihnen Platz. Zu dem Burschen sagte sie: »Der Weg ist ein wenig eng hier, du mußt neben dem Wagen hergehen, mein Schatz, bis der Weg breiter wird, dann darfst du dich neben mich in den Wagen setzen.«

›Das wird ja prächtig!‹ dachte der Bursche. ›Wenn ich nur erst glücklich oben wäre, dann liefe ich der ganzen Bande davon‹,[303] dachte er, aber er sagte nichts. Er ging mit dem Zuge, so gut er konnte; zuweilen mußte er kriechen, manchmal mußte er sich bücken, denn der Weg war eng; aber als er besser wurde, ging er voraus und schaute sich um, wo man sich am besten davonstehlen und das Weite suchen könnte. Da hörte er plötzlich eine klare schöne Stimme hinter sich sagen: »Nun ist der Weg gut! Komm, mein Schatz, und steig in den Wagen!«

Der Bursche wandte sich rasch um, und vor Staunen wären ihm fast Nase und Ohren weggefallen. Da stand der prächtigste Wagen mit sechs weißen Pferden, und in dem Wagen saß eine Jungfrau so licht und schön wie die Sonne, und um sie herum saßen andere, die waren so hell und freundlich wie die Sterne. Das waren eine Prinzessin und ihre Gespielinnen, die alle miteinander verzaubert gewesen waren. Aber nun waren sie erlöst, weil er zu ihnen hinuntergekommen war und nicht widersprochen hatte.

»Nun komm!« sagte die Prinzessin. Da stieg der Bursche in den Wagen und fuhr mit zur Kirche. Als sie von der Kirche wieder wegfuhren, sagte die Prinzessin: »Jetzt wollen wir zuerst zu mir fahren, und dann wollen wir nach deiner Mutter schicken.«

›Das ist ganz schön‹, dachte der Bursche – er sagte gar nichts, aber er meinte, es sei doch besser, zu ihm nach Hause zu fahren als hinunter in das häßliche Rattenloch. Aber auf einmal kamen sie an ein schönes Schloß; da zogen sie ein, und da sollten sie wohnen. Und gleich wurde ein prächtiger Wagen mit sechs Pferden nach der Mutter des Burschen geschickt, und als sie kam, fing das Hochzeitsfest an. Sie feierten vierzehn Tage, und vielleicht feiern sie noch. Wir wollen uns eilen, dann kommen wir vielleicht noch recht und können mit dem Bräutigam anstoßen und mit der Braut tanzen.

Quelle:
Stroebe, Klara: Nordische Volksmärchen. 2: Norwegen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 298-304.
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