Die Krähe.

[81] In einem königlichen Schlosse lebten drei Schwestern. Alle drei waren hübsch und jung, die jüngste war aber von allen die gutherzigste.

Nicht weit, etwa eine halbe Meile entfernt, stand ein zweites, schon zerfallenes Schloß, und dabei war ein köstlicher Garten. Hier ging die jüngste Prinzessin gern spazieren.

Einmal ging sie die Lindenallee auf und ab, da hüpfte aus einem Rosengesträuch eine schwarze Krähe hervor. Sie war ganz zerfetzt und blutig, sodaß die gute Prinzessin Mitleid mit ihr hatte. Kaum sah das die Krähe, als sie in diese Worte ausbrach:

»Ich bin keine Krähe, ich bin ein verzauberter Prinz und muß meine jungen Jahre so im Elend zubringen. Wenn Du's wolltest, o Prinzessin, Du könntest mich wohl retten. Sei für immer meine Gefährtin, trenne Dich von Deinen Lieben und komme zu mir in dieses Schloß. Ein Zimmer ist noch wohnlich, drin steht ein goldenes Bett. Einsam wirst Du hier leben. Doch vergiß nicht: was Du in der Nacht auch siehst und hörst, – nie darfst Du ein Angstgeschrei erheben; denn wenn Du nur ein einziges Mal schreist, sind meine Qualen verdoppelt.«

Die gütige Prinzessin verließ Vater und Mutter und bewohnte in dem einsamen Schlosse das Zimmer mit dem goldenen Bett. Am ersten Abend konnte sie nicht einschlafen. Um Mitternacht hörte sie, daß etwas geschlichen kam. Die Tür öffnete sich sperrweit, und ein Heer böser Geister stürmte herein. Die Teufel zündeten auf dem Herde ein großes Feuer an, darauf kochten sie Wasser in einem großen Kessel. Dann kamen sie mit[82] Lärm und Geschrei zum Bette, rissen das zitternde Mädchen heraus und schleppten es zum Kessel.

Sie starb beinah vor Furcht, doch gab sie keinen Laut von sich. Da krähte plötzlich der Hahn, und alles verschwand. Und da erschien die Krähe und hüpfte vor Freude im Zimmer umher. Sie dankte der Prinzessin für ihren Mut, denn schon waren die Qualen des armen Tierchens bedeutend vermindert.

Die eine der älteren Schwestern hatte das alles erfahren, und aus Neugier kam sie die jüngste besuchen. Hier drang sie solange mit Bitten in sie, bis das gute Kind ihr endlich erlaubte, eine Nacht mit ihr im goldenen Bette zuzubringen. Als aber um Mitternacht die bösen Geister erschienen, schrie die Ältere laut vor Angst, und sogleich ertönte ein schmerzliches Gezwitscher. Von nun ab nahm die Jüngste keine ihrer Schwestern mehr zu Gaste.

Sie lebte einsam und litt die schrecklichste Angst vor den Geistern der Nacht. Aber plötzlich kam die Krähe, dankte ihr für ihre Ausdauer und sagte, ihre Leiden seien schon bedeutend vermindert.

So waren zwei Jahre vergangen, da sprach die Krähe zur Prinzessin: »In einem Jahre ist meine Strafzeit vorbei. Ehe ich jedoch meine wahre Gestalt wiedererlange, mußt Du in die weite Welt und als Magd dienen.«

Die junge Prinzessin diente nun ein ganzes Jahr lang, und obgleich sie jung und hübsch war, entging sie doch den Nachstellungen der Bösewichte.

Eines Abends spann sie Flachs und war schon ganz müde. Da vernahm sie frohes Rufen, und herein[83] trat ein schöner Jüngling, kniete nieder vor ihr und küßte ihre arbeitsmüden weißen Händchen.

»Ich bin es,« rief er aus, »ich bin der Prinz, den Du durch Deine Güte von furchtbaren Qualen befreit hast, als ich noch in Gestalt einer schwarzen Krähe umherwandelte. Komm nun mit auf mein Schloß. Wie glücklich wollen wir da miteinander leben!«

Und sie zog mit nach dem Schlosse, wo sie solchen Schrecken erlebt hatte. Hundert Jahre lebt' sie drinnen, hundert freudenvolle Jahre.

Quelle:
Volkssagen und Märchen aus Polen von K. W. Woycicki. Breslau: Verlag von Priebatschs Buchhandlung, 1920, S. 81-84.
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