1. Das wunderbare Kind.

In Kujawien erzählt man sich folgende Geschichte: In Russisch-Polen wurde im Jahre 1890 ein Kind geboren. Als man dieses zur Taufe trug und die heilige Handlung beginnen sollte, verwandelte es sich plötzlich in einen Fisch. Diesen wollte der Propst nicht taufen, und so mussten die Leute unverrichteter Sache nach Hause gehen. Doch schon unterwegs wurde aus dem Fisch wieder ein Kind. Man trug es abermals zum Taufstein, aber da verwandelte es sich in eine Lichtmesskerze. Auch diese wollte der Propst nicht taufen. Auf dem Rückwege verwandelte die Kerze sich wieder in ihre ursprüngliche Gestalt, und so trug man das Kind zum drittenmal in die Kirche. Allein als der Geistliche mit der Taufe beginnen wollte, verwandelte sich das Kind in ein Brot. Der Geistliche erkannte nun, dass das ein Zeichen von Gott sei, und weil das Brot das wichtigste Nahrungsmittel des Menschen ist, so taufte er es. Nachdem die Taufhandlung beendigt war, bekam das Kind seine natürliche Gestalt wieder und fing an zu reden. Es sagte: »Wäre ich in der Fischgestalt getauft worden, so würde eine grosse Wasserflut die Erde verwüstet haben; wäre ich als Kerze getauft, so würden Donner und Blitzschläge hervorgerufen worden sein, die alles vernichtet hätten. Da aber Brot getauft wurde, so wird viele Jahre hindurch grosse Fruchtbarkeit auf der Erde herrschen.«

Wir finden diese wunderbare Erzählung in etwas anderer Gestalt wieder bei J.D.H. Temme, Die Volkssagen von Pommern und Rügen (Berlin 1840) S. 309 ff. Danach hat sich die Geschichte im Jahre 1831 in Stettin zugetragen. Das Kind, das von Bauern auf einer Wiese gefunden wird, verwandelt sich in ein Stück Fleisch, in einen Fisch (Zander) und in ein Brot. Wie der Pfarrer nach dem Messer greift, um das Brot aufzuschneiden, erhält das Kind seine natürliche Gestalt wieder und wächst vor aller Augen, bis es ein feiner Knabe geworden, der dann die Bedeutung seiner Verwandlungen erklärt. Der Verwandlung in eine Lichtmesskerze entspricht in der pommerschen Sage, die übrigens in Mittelpommern weit verbreitet gewesen zu sein scheint, die Verwandlung in ein Stück Fleisch, welche Krieg und grosses Sterben bedeuten soll.


[Die Erzählung scheint zusammenzuhängen mit der Sage vom Kornkinde (Grimm, DS. 14: ›Das schwere Kind‹), die S. Singer (Schweizer Märchen 1903 S. 7–35) einleuchtend auf einen Mythus von einem Vegetationsdämon zurückgeführt hat. Neu ist aber die dreimalige Verwandlung des zur Taufe getragenen Kindes in einen Fisch, eine Kerze und ein Brot. Vielleicht können unsere Leser weitere Parallelen nachweisen.]

Quelle:
Knoop, Otto: Sagen aus Kujawien. In: Zeitschrift für Volkskunde 15 (1905) 102-105, Berlin: A. Asher & Co, S. 102.
Lizenz:
Kategorien: