4. Die böse Stiefmutter.

[207] Es war ein Mädchen, das hatte eine Stiefmutter. Die Stiefmutter aber war böse und konnte ihre Stieftochter nicht ausstehen. Deshalb führte sie die Kleine eines Tages in den Wald und liess sie dort allein. Sie kam zu einem Räuberhause und kehrte in demselben ein. Die Räuber nahmen das Mädchen freundlich auf, und bald gewannen sie es lieb; deshalb behielten sie es bei sich, und es musste ihnen das Essen kochen und die Zimmer in Ordnung halten. Die Stiefmutter hatte gedacht, dass die Tochter im Walde umkommen würde. Als sie aber erfuhr, dass es ihr im Walde gut ging, verkleidete sie sich und ging zum Räuberhause. Sie traf ihre Stieftochter allein. Beim Weggehen gab sie dem Mädchen ein Kleid. Als diese das Kleid angezogen hatte, da fiel sie um und war tot. Bald darauf kamen die Räuber zurück, und als sie ihren Liebling tot fanden, da weinten sie sehr. Sie zogen ihr nun das Kleid aus, aber siehe da, kaum hatten sie das Kleid abgezogen, da wurde das Mädchen wieder lebendig. Bald darauf kam die Stiefmutter, die das gehört hatte, wieder und gab dem Mädchen einen verhexten Ring. Als diese den Ring an den Finger gesteckt hatte, da fiel sie wieder tot zu Boden. Die Räuber kleideten sie wieder aus, in der Hoffnung, dass sie dann zum Leben zurückkehre; allein diesmal half alles nichts, das Mädchen blieb tot. Da nahmen sich die Räuber aus Verzweiflung alle das Leben. Einige Zeit später kam ein Förster an dem Hause vorbei. Er schaute hinein und sah das tote Mädchen liegen. Er trat an sie heran und betrachtete sie. Da sah er den schönen Ring an dem Finger der Toten, und er machte sich daran, den Ring abzuziehen, um ihn mitzunehmen. Kaum aber hatte er ihn abgezogen, da erwachte das Mädchen wieder. Sie ging nun mit dem Förster mit und wurde seine Frau.


Nach der Erzählung einer alten polnischen Frau in Gr.-Sokolniki. Unser Märchen ist wohl nur eine verkürzte Form des Märchens von Sneewittchen bei Grimm Nr. 53. Für die Zwerge sind die Räuber eingetreten, für die das Mädchen in derselben Weise sorgt[207] wie Sneewittchen für die Zwerge. Statt des Schnürriemens finden wir hier ein ganzes Kleid. Nachdem die Zwerge dem wie tot daliegenden Sneewittchen den Schnürriemen zerschnitten, fängt es an zu atmen und wird wieder lebendig. Der vergiftete Kamm ist hier vergessen, und für den vergifteten Apfel ist ein verhexter Ring eingetreten, für den Königssohn ein einfacher Förster, der das Mädchen wieder zum Leben bringt, indem er ihr – zunächst aus Habsucht – den Ring vom Finger zieht. Auffallend ist der Umstand, dass die Räuber sich aus Verzweiflung das Leben nehmen. Vgl. zu diesem Märchen auch H.v. Wlislocki, Märchen und Sagen der transsilvanischen Zigeuner S. 45 und Hessische Blätter für Volkskunde 6, 76. Bei Krauss, Sagen und Märchen der Südslawen 2, Nr. 142, steckt die böse Kaiserin ihrer Schwiegertochter einen Ring an den Finger, indem sie dazu einige unverständliche Worte murmelt; die Schnur betrachtet den Ring von allen Seiten und dreht ihn um den Finger herum, wodurch sie in ein Schaf verwandelt wird. Ein zweiter Ring aber, den die Kaiserin dem Schaf gibt, verwandelt die Schnur wieder in ihre Menschengestalt zurück.

Quelle:
Knoop, Otto: Sagen aus Kujawien. In: Zeitschrift für Volkskunde 26 (1916) 204-208, Berlin: Behrend & Co, S. 207-208.
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