Anmerkungen und Zusätze.

Zu 39. Dieses urwüchsige Märchen wurde mir durch den Studirenden Herrn J. Zacchia, dessen Gefälligkeit ich auch die übrigen Mittheilungen aus Fassa verdanke, im Fassaner Dialekte aufgezeichnet gütigst mitgetheilt; derselbe, selbst aus Fassa stammend, ist ein genauer Kenner jenes noch wenig erforschten interessanten Dialektes. »Fillomusso« ist wol ein entstellter Latinismus: filius mussae. Das Märchen ist mir ausserdem noch in drei verschiedenen Variationen bekannt geworden, welche hier kurz wiedergegeben werden sollen. Die erste derselben ist aus Nonsberg, die zweite aus dem Lederthal, die dritte aus Vallarsa.

A. Ein Mann und ein Weib nahmen einmal ihren noch ganz kleinen Knaben mit sich auf das Feld. Dort raubte ihn eine Bärin, trug ihn in ihre Höhle und nährte ihn mit Eicheln und Waldfrüchten. Der Knabe wuchs und wurde sehr stark und als er zwanzig Jahre alt war, schickte ihn die Bärin wieder nach Hause. Da sagte er seinen Aeltern, er sei ihr Sohn und sie nannten ihn »Gian dall' Orso« (Johann vom Bären). Seine Aeltern konnten ihm nicht genug zu essen geben, denn er wurde nie satt. Da verlangte er drei Zentner Eisen und zwang seine Mutter so lange betteln zu gehen, bis sie es hatte. Mit einem daraus geschmiedeten Stocke ging er sein Glück suchen. In einem Walde fand er einen Riesen, der hatte einen Stock von Blei und hiess Barbiscat (soll wol »Katzenbart« bedeuten).[188] Beide gingen und trafen einen andern Riesen, der hatte einen Stock von Holz und hiess »Testa de molton« (Widderkopf). Sie kamen alle drei in eine Stadt; da war ein Haus, in welchem die Zauberer (i maghi) wohnten und die drei beschlossen dieselben zu tödten. Die erste Nacht ging der Widderkopf hin. Um zwölf Uhr Mitternacht kam ein Zauberer, der sah den Riesen zornig an und sagte: »Erdenwurm, was suchst du hier?« Da fürchtete sich der Widderkopf und der Zauberer liess ihn entfliehen. Eben so erging es in der zweiten Nacht dem Katzenbart. In der dritten Nacht ging Gian dall' Orso hin, der fürchtete sich nicht, sondern streckte den Zauberer mit wuchtigen Hieben zu Boden und ging, um die zwei Riesen zu holen. Sie fanden den Zauberer nicht mehr, wol aber Blutspuren, diesen gingen sie nach und kamen zu einem Loche. Hier liess sich Gian dall' Orso an Stricken hinab und fand unten ein Gemach, da lag sterbend der Zauberer, welchen er in der letzten Nacht so übel zugerichtet hatte. Aber Gian dall' Orso erschlug noch drei andere Zauberer und befreite so eine wunderschöne Jungfrau. Die Riesen zogen sie hinauf, ihn aber liessen sie unten. Da sah er herum und bemerkte etwas Leuchten des. Es war ein Ring, den nahm er und rieb ihn an der Mauer. Sogleich kamen zwei Mohren und fragten, was er befehle. »Ich befehle«, sagte er, »dass ein Adler komme und mich hinauftrage«. Sogleich brachten sie einen grossen Adler, »aber« sagten sie, »er muss gut gefüttert werden«. Da liess er sich zwei fette Rindsschenkel bringen, sezte sich auf den Adler und fütterte ihn, bis er oben war. Dann ging er in die Stadt und stellte sich dem Könige als Befreier seiner Tochter vor, welche ihn erkannte und die Wahrheit bestätigte. Da liess er die beiden Riesen tödten; Gian dall' Orso aber bekam viel Gold und Silber, ging nach Hause und lebte dort glücklich und im Frieden.

B. Einmal arbeitete ein Weib auf dem Felde, da kam ein Bär und trug sie in seine Höhle. Alle Tage brachte er ihr zu essen. In der Zeit, als sie in der Höhle war, kam sie mit einem Knaben nieder. Dieser war von ausserordentlicher Stärke und als er neun Monate alt war, versuchte er schon den Berg in die Höhe zu heben, aber er war es noch nicht im Stande. Als er zwei Jahre alt und der Bär einmal abwesend war, versuchte er es wieder und es gelang; er hob den Berg auf und ging mit seiner Mutter nach Hause. Er wurde getauft und erhielt den Namen »Giuan dall' Urs« (Johann vom Bären). Er wurde auch in die Schule geschickt; hier aber schlug er die Kinder, wenn sie ihm Uebernamen gaben und einmal warf er sogar den Lehrer und den Geistlichen über die Stiege hinab. Da wurde er in den Kerker gesezt; als er aber müde war dort zu bleiben, hob er die Thüre aus, ging zum Richter und sagte: »Gib mir ein Schwert,[189] sonst bring' ich dich um!« Der Richter fürchtete sich und gab es ihm. Dann nahm er von seiner Mutter Abschied und ging in die Welt. Zuerst begegnete er einem Seiler, dann einem Bäcker, welcher »boca da furn« (Ofenloch) hiess und sie gingen nun alle drei mit einander. Sie kamen in ein Schloss im Walde und gingen hinein. Niemand war zu sehen; im Saale stand eine wolbedeckte Tafel, daran sezten sich die drei und assen und tranken, dann schliefen sie und am Morgen gingen sie in alle Zimmer, fanden jedoch Niemanden. Dann gingen Giuan dall' Urs und Ofenloch auf die Jagd und sagten zum Seiler: »Bleib hier und wenn jemand kommt, so läute mit dem Glöcklein, welches dort in der Ecke steht und wir werden gleich da sein«. Bald kam ein altes Männchen mit eisgrauem Barte und der Seiler wollte zum Glöcklein laufen, allein der Alte fasste ihn und gab ihm furchtbare Schläge. Am zweiten Tage blieb Ofenloch zu Hause, aber auch er erhielt, was der Seiler bekommen hatte. Am dritten Tage blieb Giuan dall' Urs zu Hause. Als der Alte kam, warf ihn Giuan auf den Boden, band ihm die Arme auf den Rücken und hing ihn an einem Nagel an der Wand auf. Als die andern kamen, wollte er ihnen den Alten zeigen, aber am Nagel hing blos der Bart desselben. Nun blieb Giuan am folgenden Tage wieder zu Hause und schlug dem wiederkehrenden Alten den Kopf ab. Dann rief er seine Gefährten; indessen stand der Alte wieder auf und sie sahen nur noch, wie er in einen tiefen leeren Brunnen hinabsprang. Giuan liess sich an Stricken hinab und kam unten zu einer hölzernen Pforte. Als er dreimal geklopft hatte, kam eine schöne Jungfrau heraus, die warnte ihn, er aber versprach sie zu befreien und versteckte sich im Gemache. Da kam ein alter Zauberer und rief:


»Tintin tin

Sento udur de cristianin,

Se no i gh' è

I gh' è stè!«


Sie wollte es ihm ausreden, er aber ging suchen. Da sprang Giuan hervor und erschlug ihn; die Jungfrau aber liess er hinaufziehen. Dann kam er zu einer eisernen und darauf zu einer goldenen Pforte, erschlug nach einander noch zwei andere Zauberer und befreite zwei andere noch schönere Jungfrauen. Er liess diese und sich selbst hinaufziehen; dann führten sie die drei Jungfrauen, welche Prinzessinnen waren, zu ihrem Vater und hielten fröhliche Hochzeit.

C. Ein König hatte drei Söhne und auch einen Garten, darin standen drei Nussbäume, an welchen goldene Nüsse hingen. Eines Morgens bemerkte er, dass die schönste Nuss fehle; er suchte, fand sie aber nicht.[190]

Am folgenden Morgen fehlte wieder eine und als der König sie nicht finden konnte, wurde er sehr betrübt. Da sagte der älteste Sohn: »Vater, gib mir zwölf Soldaten, ich will nachts im Garten wachen«. Der König gab sie ihm, er ging und baute sich im Garten eine Hütte. Dort legte er sich nieder und schlief die ganze Nacht; am Morgen aber fehlte wieder eine Nuss. Dann sagte der zweite Sohn: »Vater, gib mir sechs Soldaten, ich will heute nachts im Garten wachen«. Der König gab sie ihm und er wachte die ganze Nacht im Garten, ohne zu schlafen, aber es blieb alles ruhig; nur um Mitternacht glaubten sie ein Säuseln des Windes in den Bäumen zu hören. Am Morgen jedoch fehlte abermals eine Nuss. Da sagte der jüngste: »Vater, erlaube mir, nachts allein im Garten zu wachen«. Der König erlaubte es ihm, er ging und stieg auf den Nussbaum, indem er das blanke Schwert in der Hand hielt. Um Mitternacht kam der Wind und als es im Baume rauschte, führte der Prinz einen kräftigen Hieb und hörte, wie etwas zu Boden fiel. Am Morgen fehlte keine Nuss, unter dem Baume aber lag ein grosser abgehauener Arm und durch den Garten ging ein Blutstreif. Da erbat sich der Prinz von seinem Vater die Erlaubniss, gehen und sehen zu dürfen, was es sei. Er ging dem Blutstreif nach über Berg und Thal bis zu einer grossen Felsenplatte auf einer Bergwiese. Unweit davon waren Leute damit beschäftigt, die Schwaden des gemähten Grases in »Scheiben« auszubreiten (trar en saibe); der Prinz rief sie und bat sie die Felsenplatte aufzuheben. Darunter war ein grosses Loch, welches tief in die Erde hinabging. Nun befahl der Prinz, ihn an Stricken hinunter zu lassen und zu warten, bis er wieder käme. Als er unten war, sah er eine grosse Ebene und kam zu einem alten Manne und einer alten Frau, welche die Schafe hüteten. Sie warnten ihn weiter zu gehen und zeigten ihm einen grossen Palast; darin wohnten drei Zauberer und viele schöne Jungfrauen, welche sie den Königen der Erde geraubt hatten. An der Pforte wachte ein Tiger, dem der Prinz ein getödtetes Schaf vorwarf, dann ging er hinein und erschlug zwei Zauberer (denn sie schliefen bei Tage, weil sie bei Nacht auf Raub ausgingen). Dem dritten, welcher wachte, weil er wegen des verlorenen Armes vor Schmerz nicht schlafen konnte, schleuderte er Sand in die Augen und erschlug ihn ebenfalls; die drei Leichen warf er dem Tiger vor. Darauf führte er die erlösten Jungfrauen heraus und liess sie hinaufziehen. Als er selbst hinaufgezogen werden sollte, sagte jene Alte: »Gebt Acht, dass sie Euch nicht einen bösen Streich spielen, bindet lieber zuerst einen Stein an, dann werdet ihr sehen«. Der Prinz that es und als der Stein halb oben war, schnitten die oben den Strick ab und der Stein fiel mit grossem Gepolter herab. Die es aber thaten, waren[191] des Prinzen eigene Brüder, denn sie waren ihm nachgegangen und führten nun die Jungfrauen nach Hause, um sich die schönsten auszuwählen und sie zu heiraten. Der Prinz aber blieb eine Zeit lang im schönen Palaste und ging auf die Jagd. Bald wurde es ihm zu langweilig und er zwang die beiden Alten, ihm ein Mittel anzugeben, wie er hinaufkommen könne. Da zog der Alte ein Pfeifchen heraus und pfiff und im Augenblicke flogen viele Vögel herbei, kleine und grosse von allen Arten und Farben. Der Prinz suchte sich einen Adler heraus, sezte sich darauf und gab ihm während der Fahrt ein Lamm zu fressen. Dann ging er nach Hause, wo seine Brüder eben Hochzeit hielten und erzählte dem Könige, wie alles zugegangen sei. Da liess der König die beiden ältern Söhne in einen tiefen Kerker werfen; der jüngste aber hielt mit der schönsten der Jungfrauen fröhliche Hochzeit, bekam nach dem Tode seines Vaters Thron und Krone und regierte glücklich und weise bis an sein Ende.

Eine vierte (mir bisher noch nicht in befriedigender Vollständigkeit bekannt gewordene) Variation soll auch unter dem Namen: »i tre paradisi« erzählt werden; der Held derselben ist ein Schäfer, dem von Zeit zu Zeit ein Schaf fehlt u.s.w.

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 117-118,188-192.
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