12. Der Mord am Bergüner-Steine.

[33] Jene Felsen, welche, zehn Minuten unterhalb Bergün, so still und stolz über die Fluthen der Albula sich erheben, werden der »Bergüner-Stein« genannt. Hunderte von Reisenden durchwandern das durchaus alpine Thal der Albula größtentheils nur, um diesen Bergüner-Stein zu sehen, der an Naturschönheit mit der Viamala-, Schyn- und Pfäfferser-Schlucht sich messen kann.

Die Natur entfaltet hier eine schauerliche Großartigkeit. Aber an die Romantik knüpft sich leider auch die Fakta einer traurigen Begebenheit: Im Jahre 1572 hatte ein Bursche seiner Geliebten Treue geschworen und die Hochzeit war auf kommenden Frühling angesetzt. Der Bräutigam ward aber seiner Braut überdrüssig und suchte ihrer sich zu entledigen, obgleich sie von ihm ein Pfand der Liebe trug; das betrogene Mädchen wollte nicht von ihm lassen, und so brachte er den Plan zur Ausführung, durch Gewalt ihrer los zu werden. Er beredete sie einstens, mit ihm nach Villasur zu gehen,[33] und beim »Stein« angekommen, dort wo der Felsen so schauerlich über das tief liegende Bett der Albula überhängt und die zerrissensten Riffe zeigt, dort stieß er sie über den Rand hinab.

Das ist Thatsache!

Seitdem vernehme man zuweilen Nachts, unterhalb des Felsens, selbst auf der Straße, ein fürchterliches Weibergeschrei, welches mit dem ersten Schlage der zwölften Stunde aber aufhöre.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 33-34.
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