6. Der Drache im Castieler-Tobel.

[24] Ehemals, als noch das Schloß »Castellum« zu Castiel in Schanvigg stand, hauste in der Nähe desselben, im »tiefen Tobel«, ein fürchterlicher Lindwurm, der den Weg durch das Tobel verlegte und der nur dadurch zu begütigen war, daß jeden Monat aus den drei Gemeinden Castiel, Cavraisen oder Lüen ein Mensch als Opfer ihm gebracht wurde.

Zu dieser Zeit kam ein riesenfester Mann mit seiner einzigen Tochter aus der Fremde über die Berge her und ließ in der Gemeinde Lüen sich nieder.

Nun kam auch wieder die Zeit, wo der Drache, wie gewohnt, sein Opfer forderte; das Loos traf die Gemeinde Lüen und gerade die Tochter des Fremden. Alle Rücksicht auf Selbsterhaltung verläugnend, beschloß er, zur Rettung seines Lieblings mit dem Drachen den Strauß zu wagen. – Am bestimmten, schicksalsschweren Tage führte er an der Linken seine Tochter, die Rechte hielt das Schwert.

Mit Beben sah das versammelte Volk der drei Dörfer einem schrecklichen Ausgange entgegen.

Unerschrockenen Herzens näherten der Fremde und seine Tochter sich dem Ungethüme. Dieses schwang seine Riesenflügel und stürmte mit weitgeöffnetem, feuerschnaubendem Rachen hinzu, sein Opfer zu verschlingen. – Der Muthige warf ihm eine »Allermannsharnisch-Wurzel« zu, stieß ihm schnell das Schwert in den von Schuppen nur schwach bewahrten Hals und erlegte so den Drachen.[24]

Gleich nach der ruhmvollen That sank er auf das Knie und dankte, mit erhobenem Schwerte, der Vorsehung für die Rettung Aller von dem Ungethüme. Da fiel vom Schwerte ein Blutstropfen des Drachen herab auf sein Haupt und das schreckliche Gift desselben tödtete ihn augenblicklich.

Das dankbare Volk ehrte sein Andenken in seiner Tochter.

An der Stelle, wo der Kampf mit dem Lindwurme stattgefunden, steht jetzt die Kirche von Castiel.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 24-25.
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