1. Zarèra.

[34] Oberhalb Pisciadella ist eine Stelle, wo lauter Ruinen von Gebäulichkeiten sich befinden, und diese Stelle heißt heute noch la Rovina (die Ruine).

Daselbst stand, wie die Sage erzählt, das hübsche Dorf Zarèra, welches aber von rohen, gottlosen Leuten bewohnt war, die man in der ganzen Umgebung verachtete und fürchtete.

Zarèra war der günstigen Lage wegen eine bedeutende Haltstelle für Fuhrleute und Wanderer, aber die wurden von den Einwohnern so schlecht gehalten und betrogen, daß sie sich hoch und theuer verschworen, in diesem Orte nicht wieder einzukehren; gar oft wurden sie noch beraubt, und zudem bestrichen die Wirthe die Zähne der armen Saum- und Fuhrpferde mit Seife glatt, daß sie kein Heu fressen konnten, und doch mußten die Säumer und Fuhrleute das Heu zu unverschämten Preisen bezahlen.

Das ging so lange Jahre. Die Langmuth des göttlichen Richters war erschöpft, doch warnte er die durch Geiz Verblendeten und in Betrug Verstockten, indem er ihnen eine Vision gab: Die Bewohner erblickten nämlich nächtlicher Weile eine Jungfrau auf einem weißen Rosse um ihre Wohnungen herumreiten, mit lauter Stimme zur Buße und Besserung ermahnend. – Es blieb jedoch bei dem Schrecken. Die leidenschaftlichen Bewohner höhnten die Warnerin[34] arg. Die Gnadenfrist war endlich verstrichen. Der Tag der Rache brach an. – Der Mittag verwandelte sich in Mitternacht. Furchtbar rollte der Donner. Der Orkan brach los. Die Wald bäche umschlossen das Nest der sündhaften Rotte. Der zuckende Blitz ließ die Verstockten ihre verzweifelte Lage sehen. Von allen Seiten stürmten Felsblöcke, Bäume sammt Wurzeln, Massen von Schlamm ein, und – als der Himmel sich klärte, war Zarèra nicht mehr. – Hie und da sind auf den Ruinen Bäume gewachsen, und in der Mitte der Ruinen findet sich ein Platz, auf welchem kein Baum Wurzeln fassen mag. Darunter soll die Kirche von Zarèra gestanden haben. – Eine einzige Frau, die nicht mit den Andern allen gehalten, wurde mit ihrem Säuglinge gerettet, ein Windstoß hatte Beide fortgetragen und auf einen Rasenplatz niedergesetzt. Sie konnte der übrigen Thalbevölkerung Kunde von dem schrecklichen Ereignisse geben. –

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 34-35.
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