19. Der letzte Vogt auf Guardavall.

[77] In Campovasto wohnte das schönste Mädchen des Thales. Sie war die Tochter Adam's, eines hochbetagten Landmannes; auf sie hatte der bischöfliche Vogt auf dem benachbarten Schlosse Guardavall seine lüsternen Blicke geworfen. – Wenn der befahl, galt kein Widerspruch; wen er haßte, konnte er verderben, durch Zins oder Steuern, durch Richterspruch oder willkürliches Einkerkern. Schon mancher arme Zinsmann hatte seine Tochter oder seine junge Gattin als Magd auf's Schloß ihm zuführen müssen.

Obgleich Adam auf freiem Erbe seiner Tage sich erfreute, fand der Vogt es in seiner Willkür, ihn durch seine Knechte wissen zu lassen, daß er seine Tochter begehre, damit er sie zur Schloßfrau erhebe: »Auf Guardavall wolle er ihr dienen, wie einer Fürstin«.[77]

Adam vernahm mit Entsetzen solche Botschaft, aber schnell besonnen, ließ er dem Vogte berichten, er müsse seine Tochter auf ihr bevorstehendes Glück vorbereiten, und werde sie selbsten auf's Schloß ihm zuführen. –

In der Frühe des Morgens schritt Adam, festlich gekleidet, gen Madulein, neben ihm, geschmückt wie eine Braut, die schöne Tochter, das zitternde Opfer, im Gefolge von Freunden, all'sammt in Feierkleidern. So erstieg der Zug den Schloßberg.

Der Burgvogt hatte die Kommenden schon von ferne erspäht, er eilte ihnen ungeduldig aus den Pforten des Schlosses entgegen; kaum erwiederte sein gewaltherrlicher Stolz den ehrerbietigen Gruß der Männer. Er trat zu der bebenden Jungfrau, die leichenblaß am Arme des Vaters hing, umfaßte sie und nahte mit den Lippen der keuschen Wange.

Da glühte der Vater auf. Er zuckte den Dolch und bohrte ihn in die Brust des Tyrannen, dem weder Gesetz lieb war, noch des Menschen Recht heilig galt.

Das war das Zeichen der Landeserlösung: Die Männer seines Gefolges schwangen das Schwert und stürzten durch die Thore in die Zwingburg hinein. Andere, die ringsum im Dickichte der Gebüsche verborgen lagerten, sprangen hervor; die Knechte und Söldner des Vogtes wurden erschlagen; die Flammen stiegen über den Zinnen von Guardavall auf. –

Seit jenem Tage ward das Land unterhalb der Innquellen vom Drucke der Zwingherrschaft frei.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 77-78.
Lizenz:
Kategorien: