4. Der letzte Vogt auf Bärenburg.
I.

[61] Es steht auf schroffer Felsenwand

Die Bärenburg im Rätierland;

Sie blick't wie ein Schädel aus düster'm Grab

In's stille Schamserthal hinab.


Der Bärenburger stand einmal

Am Fenster im bunten Rittersal;

Er lachte und sprach: »So weit ich mag schau'n,

Sind mein die Dörfer, die Wälder, die Au'n.


Du trotzig' Volk, du hast mir geflucht,

Weil deinen Stolz ich zu brechen gesucht,

Nicht länger fürwahr sprichst du mit Hohn;

Du wirst zu frech, dir wird der Lohn.


Und drunten schaut aus seinem Haus

Der freche Caldar pfeifend heraus, –

Ist das nicht Hohn? In meinem Bann'

Ist Caldar der schlimmste, verwegenste Mann.


S'ist Keiner, der wie er, so wild

Das Wort erhebt, wenn's Aufruhr gilt.

Bei Gott, ich zeig' ihm in kurzer Frist,

Wer von uns Beiden der Meister ist.


Wohlauf, ihr Knechte, und fasset Muth!

Die Rosse treibt auf Caldar's Gut

Und lass't sie stampfen sein fettes Gras,

Das schürt die Flamme, das gibt mir Spaß.«


Die Knechte üben den Frevel gleich.

Doch Caldar erhebt sich zornesbleich,

Der wack're Rätier, und tränket gut

Die Wiese sein mit der Rosse Blut.


Gleich fassen der Knechte vier ihn an,

Und schleppen ihn fort, den Berg hinan.

In trübem Kerker, öd' und bang',

Dort muß er schmachten viel' Jahre lang.


II.

[62] Manch' Jahr entschwunden, Caldar wieder frei,

Er sitzt in der Hütte, beim Weibe treu;

Doch finster er vor sich niederschaut;

Sein Haar ist verwildert, sein Bart ergraut.


Es schmiegen sich in seel'ger Lust

Die Kinder an die Vaterbrust;

Da bringt die geschäftige Hausfrau den Brei

Zum fröhlichen Abendessen herbei.


»Nun esset ihr Kinder, seid wohlgemuth,

In Vaters Beisein schmecket es gut,

Wir haben lange, gar lang ihn vermißt,

Dank't Gott, daß wieder bei uns er ist.«


Da pocht's an die Thüre: »Wer noch so spät?

Schließ' auf, lieb' Weib!« Und finster trat

Der Schloßherr ein, Caldar springt auf,

Führt krampfhaft die Hand an des Schwertes Knauf.


»Gesegnetes Mahl«, ruft Jener laut.

Die Kinder zittern, dem Weibe grau't,

Sie spricht: »Ich fürcht' Euch zu kränken fast,

Sonst spräch ich, Herr Ritter, seid unser Gast.«


Der Bärenburger streicht den Bart:

»Weib, deine Ladung ist guter Art!«

Laut lacht er auf, stößt an den Tisch,

Spei't in den Brei und jubelt frisch.


Doch Caldar springt empor und spricht:

»Nein, länger trag' ich die Qualen nicht!

Das Maß deiner Sünden ist angefüllt!«

Er faßt den Ritter, sein Zorn, der schwillt.


Er stößt ihm den Kopf in den siedenden Brei

Erdrosselt ihn, dem Schwure treu:

»Nun friß«, so ruft er in guter Rast,

»Den Brei, den du gewürzet hast.« –
[63]

Es trägt der Sturm von Thal zu Thal

Die Kunde von des Zwingherrn Fall;

Da ward der Schloßberg zum Altar,

D'rauf stand die Burg in Flammen klar.


Und mit den Flammen stieg empor

Des Volkes Dank im Jubelchor!

Es grüßt der erste Morgenstrahl

Ein freies Volk im Schamserthal.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 61-64.
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