7. Der närrische Michel.

[115] Wo in der Roffla mit dem Rhein

Der Waldbach sich vereinet,

Zieht rechts sich in's Gebirg hinein

Ein Alpthal, wild und steinicht.

Dort lagen schon vor alter Zeit

Getrennt, und etlich Stunden weit

Entfernt, drei kleine Dörfchen.


Im höchsten wohnt' ein Mann, den weit

Und breit im Thal man kannte,

Und wegen seiner Eigenheit

Den »närr'schen Michel« nannte.

Doch gab Der oft so weisen Rath,

Daß für den Klügsten in der That

Man ihn hätt' halten mögen.


So, unter Ander'm, sagt' er auch

Einmal, es wär' gescheidter,

Man schlüg' das Holz zu vielem Brauch

Thalabwärts etwas weiter;

Weil, wenn's mit Holzen so fortgeht,

Man endlich in des Dorfes Näh'

Daran möcht' Mangel leiden. –


Da brach's in der Gemeinde aus

Mit Spotten, Schimpfen, Fluchen:

»Heißt uns der Narr, was vor dem Haus

Wächst, Stunden weiter suchen!

Man sollte, daß er sicher weiß,

Ob Holz da ist, ihm den Beweis

Mit guten Prügeln geben.«


»Was«, sprach er, »wir jetzt haben, kann

So gut als Ihr ich sehen;

Doch für die Enkel möcht' es dann

Um's Holz schon anders stehen.[116]

Und in was Jahren glaub' ich fast,

Schlägt man mit hier gewachs'nem Ast

Sich nicht mehr große Beulen.


Denn unser Mißbrauch treibt's so weit,

Daß einst nach vielen Winden,

Wohin wir sehen, weit und breit,

Kein Stamm wird sein zu finden.

Und daß, hat Einer etwa just

Zu einem birkenen Besen Lust,

Zwei Stund' er d'rum muß laufen.«


Als purer Unsinn klang das Wort

In der Verstockten Ohren;

Im ganzen Thal schalt man sofort

Den Michel einen Thoren.

Und so wie nachher Jemand was

Erzdummes sagte, hieß es: »Das

Gehört zu Michels Besen.«


Doch waren noch nicht hundert Jahr'

Vorbei, ward's schon empfunden,

Wie jener närr'sche Michel wahr

Gesprochen, – denn verschwunden

War bald der letzte Tannenbaum

Und einer Birke mochte kaum

Der ält'ste Mann sich denken. –


Und heut', wo Michel glaubt' ein Mal,

Es werden Birken kaufen

Die Enkel, ist's an Holz so kahl

Wie oben, und zu laufen

Trifft's noch von dort das Thal hinab

Wohl eine Stund' in gutem Trab,

Will man nur Tannen finden. –
[117]

D'rum was als Wunder dazumal,

Von Unsinn jene Väter

Erzählten, ward im gleichen Thal

Nur ein Jahrhundert später

Von Kind und Kindeskinder hin

Berichtet als von klugem Sinn

Und Weisheit hohes Wunder.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 115-118.
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