Das Wunder im Kornfelde.

[125] Der Knecht reitet hinten, der Ritter vorn,

Rings um sie woget das blühende Korn,

Und wie der Ritter niederschaut,

Da liegt im Weg' ein lieblich Kind,

Von Locken umwölbt, die sind bethaut –

Und mit den Locken spielt der Wind. –

Da ruft er dem Knechte: »Heb' auf das Kind!«

Der Knecht steigt ab und langt geschwind:

»O, welch' ein Wunder! Kommt daher!

Denn ich allein erheb' es nicht.«

Ab steigt auch der Ritter, es ist zu schwer:

Sie heben es alle Beide nicht!

»Komm' Schäfer!« – sie erheben's nicht!

»Komm' Bauer!« – sie erheben's nicht!

Sie riefen Jedem, der da war,

Und Jeder hilft; sie heben's nicht!

Sie steh'n umher, die ganze Schaar

Ruft: »Welch' ein Wunder, wir heben's nicht!«

Und das holdselige Kind beginnt:

»Laßt ruhen mich in Sonn' und Wind;

Ihr werdet haben ein fruchtbar Jahr,

Daß keine Scheuer den Segen faßt,

Die Reben tropfen vom Moste klar,

Die Bäume brechen von ihrer Last. –

Hoch wächst das Gras vom Morgenthau,

Von Zwillingskälbern hüpft die Au',

Von Milch wird jede Gelte naß,

's hat jeder Arme genug im Land',

Auf lange füllt sich jedes Faß.«

So sang das Kind da und – verschwand.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 125.
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