Der Zu-Senne auf der Taminser-Alpe.

[137] Vor Jahren hielten auf der Taminser-Großalpe ein Senne, ein Zu-Senne und der Schreiber sich auf. Sie hatten eine große Heerde zu besorgen.

Unter den Kühen war Eine, die kehrte nie mit den Uebrigen heim, und jeden Abend mußte der Zu-Senne ihr nach und sie, oft bei Sturm und Wetter, in der ganzen Alpe suchen. Dieser immerwiederkehrenden Mühe endlich überdrüssig, folgte der Zu-Senne einmal dem Thiere, als es sich wieder von der Heerde entfernte. Dort, wo der Weg an einem Abgrunde vorbei führte, legte er nasse Tannenrinde, und als die zurückkehrende Kuh darauf trat, glitschte sie aus und stürzte in den Abgrund.

Der Erboste blickte lachend hinunter, wo die Kuh zerschmettert lag und rief: »Nun darf ich dich nicht mehr suchen!«

Die böse That blieb geheim. –

Der Thäter fand aber selbst nach dem Tode keine Ruhe. Nachts, wenn die Heerde sich gelagert und Alles still war, hörte man ihn wild heulen und jammern, er machte sich auf, die Kuh unten im Abgrunde aufzuheben und hinauf zu tragen. Oben entfiel ihm die Last und rollte in den Abgrund hinunter; er aber schaute hohnlachend in die grause Tiefe. So drei Male nacheinander. – Endlich bezahlte sein Vater die Kuh, und der Unselige ward erlöst.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 137.
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