Der entführte Senne.

[3] Auf der Alp Greina war ein Senne, welcher sich an einem regnerischen Abende zu den Zeitkühen auf den »Sattel« begab, um ihnen das nöthige Salz zu geben. Obgleich er längst wußte, daß die Nachtschaar über diesen »Sattel« ihren gewohnten Zug hatte, und es ohnehin spät an der Tageszeit war, zog er guten Muthes hin. Auf der Höhe des Bergrückens vernahm er aber in seiner Nähe ein unheimliches Getöne und seltsames Geräusche, und von einer unsichtbaren Macht ergriffen, wurde er nicht weit vom Boden durch die Luft, in ein ganz entlegenes Alpenthal entführt, das ihm ganz unbekannt war. In diesem Thale irrte er wohl die halbe Nacht umher, ohne einen Ausweg zu finden. Endlich fing er an zu schreien, aber Niemand hörte ihn oder gab ihm Antwort. – Die andern Sennen in der Hütte hörten vom Dache herunter eine klägliche Stimme, die um Hülfe rief, und machten sich, da ihr Genosse noch nicht zurückgekehrt, auf, ihn zu suchen, fanden ihn aber nirgends, bis der Vermißte nach anderthalb Tagen hungrig und ganz zerfetzt und zerschlagen in der Hütte ankam, wo er sein Abentheuer erzählte.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 3.
Lizenz:
Kategorien: