Die Donna di Valnüglia.

[8] In dem waldigen Hochthale Buffalora (im Münsterthale) wohnten einst gütige Feen, und ein schönes, grünes Alpenthal breitete dort sich aus. Aber durch den Vorwitz der Bewohner wurden die Geister veranlaßt, die Gegend zu verlassen, die seitdem verödete. An[8] die Stelle der holden Feen ist später ein seltsames Gespenst getreten, die Donna di Vanüglia, eine weiße Frauengestalt, die aus dem Thale Nüglia herauskommt, und bei Tag und Nacht dort umgeht. – Diese interessante Persönlichkeit war einstens Schaffnerin im Schlosse zu Zernetz und veruntreute viel Gut. Nach ihrem Tode ging sie, mit ihrem mächtigen Schlüsselbunde rasselnd, im Schlosse um, bis die Schloßherrschaft durch einen geschickten Geisterbeschwörer in das öde Thälchen Nüglia sie bannen ließ. Dort geht sie nun oft um, den Schlüsselbund am Arme; und was ihre Erscheinung noch grauenhafter macht, ist, daß sie keine Nase hat. Mit Vorliebe schreckt sie die Reisenden, die über den Ofenpaß gehen, und hat gar Manchem schon durch ihr Schlüsselgerassel bös Wetter vorausgesagt.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 8-9.
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