Die Schlangenjungfrau.

[126] (In Flutginas bei Schlans erzählt.)


Einst kam ein junger Krieger vor ein uraltes Schloß und trat in die fast zerfallenen Gemächer. Im Rittersaal erschien ihm eine anmuthige Jungfrau und bat ihn, sie zu retten, indem sie dazu[126] verdammt sei, alle Nächte als Schlange durch die Räume des Schlosses zu irren. So aber Jemand den Muth habe, sie dreimal während dreier Nächte zu küssen, der erlöse sie vom Zauber und erhalte als Belohnung ihre Hand und ihre Schätze.

Der junge Krieger sagte fröhlichen Herzens zu und ließ sich ein Gemach anweisen, wo er die Nacht zubringen sollte. In diesem fand er alle möglichen Bequemlichkeiten und auf dem Tische die köstlichsten Speisen und die allerbesten Weine. Nach genossenem Mahle legte er sich hin und schlief. Schlag zwölf Uhr aber wurde der Ruhende von einer gräßlichen Schlange geweckt, die sich an seinem Bette zischend emporrichtete. Der Ritter überwand den Eckel ob dem grauenhaften Thiere und küßte es auf den Rachen. Sofort trat ein wunderschönes Mädchenhaupt an die Stelle des häßlichen Schlangenkopfes; dann verschwand die ganze Erscheinung und der Ritter schlief ruhig weiter. In der darauf folgenden Nacht wiederholte sich der Spuck. Der Ritter umschlang muthig den Schlangenleib, drückte einen Kuß darauf und aus dem Ungethüme ward eine reizende Maid, deren Körper aber in einen schuppigen Schwanz auslief. In der dritten Nacht erschien die Schlangenjungfrau wieder, um nach dem letzten Kuß des Ritters ihre völlige Menschengestalt anzunehmen. Am frühen Morgen trat die gerettete Jungfrau zu dem Ritter, der im Garten lustwandelte und bat ihn, sie nach drei Tagen vor der Kirche im nahen Dorfe abzuholen, worauf sie dann ihre Hand für immer in die seinige legen werde. Der Ritter that, was ihm die Jungfrau gesagt und stieg vom Schlosse hinab in ein einsames Gasthaus mitten im Walde. Als er am andern Morgen sich anschickte, seinen Zopf zu drehen, da kam die Wirthin in's Zimmer und bat, ihm bei dieser Arbeit behülflich sein zu dürfen. Der junge Mann ließ sich die Dienstleistung gefallen und die Wirthin drehte mit zierlichen Händen den Zopf, steckte aber die Nadel der Vergeßlichkeit in das Haargeflecht, so daß Jener seine Braut vergaß und gedankenlos herrlich und in Freuden dahinlebte. Die befreite Jungfrau aber harrte am dritten Tage seiner und als er nicht kam, schickte sie ihre treue alte Magd zu ihm und er versprach am andern Morgen zu kommen. Allein die arge Wirthin, die eine schlimme Zauberin war,[127] bot sich ihm wieder zu Diensten an und wiederholte ihre Zauberkunst, so daß der Edelmann der Zeit vergaß. Nach dem sechsten Tage kam die Magd wieder und berichtete mit Thränen in den Augen, daß der böse Zauberer wieder Macht erlangt habe über ihre Herrin und sie nun auf dem Glasberg weile. Befreiung aber sei nur durch den Ritter möglich, der als ein Sonntagskind über die schlimmen Geister Gewalt habe. Die Schreckensmähre weckte den Jüngling aus seinem halbwachen Traume und er schwur, hinzueilen, um die Braut zu befreien. Die Alte gab ihm ein Paar goldene Schuhe, mit welchen der Jüngling bei jedem Schritte drei Meilen machte und so kam er noch am hellen Mittag zum Glasberge, wo ihn unzählige Jungfrauen mit den schönsten Augen um Rettung flehten, aber er ließ sich nicht bethören, und ruhte nicht, bis er die Braut gefunden, die ihn jubelnd umarmte. Da er aber nur ein Paar dreimeilenschuhe hatte, so trat er einen davon der befreiten Freundin ab, umschlang sie und fuhr mit Blitzesschnelle mit der theuren Last nach dem fernen, nun entzauberten Schlosse, wo die beiden ein glückliches Paar und die Stammeltern eines großen und mächtigen Geschlechtes wurden.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 126-128.
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