Von der feuerspeienden Schlange.

[124] (In Bardagliun bei Trons erzählt.)


Ein Ritter ritt einst auf die Jagd. Da kam ihm von ungefähr ein alter Mann entgegen und bat den edlen Herrn um eine Gabe. Dieser gab willig ein Goldstück und wurde vom armen Greis mit Segenswünschen überhäuft. Dann sprach der alte Mann: »Euch[124] stehen Abenteuer bevor und zu Eurem Schutze geb ich Euch einen Fuchs mit. Den entsendet im Augenblicke der höchsten Gefahr und er wird Euch retten.« Dann pfiff der Alte und in mächtigen Sprüngen kam ein grauer Fuchs herbei und schmiegte sich schmeichelnd an den Ritter. Dieser nahm das gute Thier auf den Arm, schwang sich auf auf sein Roß und ritt von dannen, dem Alten, der mit entblößtem Haupte da stand, Grüße zuwinkend.

Gegend Abend kam der Jüngling vor eine dunkle Höhle, stieg vom Pferd, band dasselbe an eine Tanne, rief dem Fuchs, der ihm wie ein Hund folgte. Kaum hatte er aber einige Schritte gethan, daß er fast erschrocken zurück wich, denn vor ihm stand in kurzer Entfernung eine furchtbare Feuerschlange, größer und scheußlicher, als der größte und scheußlichste Drache. Der Ritter warf zwar mit aller Macht den Speer in den offenen Schlund des feuerspeienden Ungethümes, aber der eiserne Speer zerschellte, wie ein schwacher Stab. Ströme von Flammen ausgießend, ringelte sich die Schlange in die Höhe und wollte sich auf den Ritter werfen, um ihn zu zermalmen, als dieser den Fuchs enteilen hieß. Darob machte die Schlange eine Bewegung nach rückwärts. Diesen Augenblick benutzte der Ritter, that einen raschen Sprung, deckte sich mit dem Schilde, und stieß, den Namen Gottes anrufend, sein zweischneidiges, breites Schlachtschwert in das Herz der Schlange, daß dieselbe lautlos zusammenbrach. Da kam das Füchslein wieder, lobte den Ritter ob seiner mannhaften That und lud ihn ein, noch das Letzte zu thun und die Königstochter mit ihren neunundneunzig Jungfrauen zu retten, die die Schlange bewachte und die von ihr getödtet werden sollten. Der junge Held besann sich nicht lange und folgte dem Fuchs, sich an seinem Schwanz haltend, durch dunkle Gänge, bis er in einen goldenen, blitzenden Saal kam, wo die schönste Königstochter, von neunundneunzig Edeljungfrauen umringt, bebenden Herzens ihres entsetzlichen Schicksals harrte. Aber statt der vernichtenden Schlange kam ein stattlicher Jüngling in vornehmem Kleide, der den edlen Jungfrauen die Freiheit brachte. Da bot ihm die Königstochter ihre Hand, er ward ihr Gemahl und sie genossen der schönsten Tage und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 124-125.
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