12. Die Pest-Leutchen.

[30] Zur Zeit der Pest in Bünden schlichen zwei alte kleine gespenstige Wesen, ein Männlein und ein Weibchen durch den Felsenbach (Clus) hinein in's Prätigau.

Das Männlein trug eine Schaufel, das Weiblein einen Besen.

Wie sie so in's Thal hineinschauten, sagte das Männlein: »ich gehe hinauf in die Berge, und schaufle herab, Du fegst im Thale.« –

In Pradisla kehrten sie im Wirthshause ein, um zu übernachten. Es war dieß ein sonderbares Päärchen; Er trug in der einen Hand einen gewaltigen Bergstock, auf der Achsel ruhte die Schaufel. Das Weibchen trug einen Besen; unter ihrer zerknitterten Flor-Kappe hervor ließen die tiefgefurchte Stirne, und schneeweiße Locken sich sehen.

Sie baten den Wirth um Imbiß und bescheidenes Lager.

Am Morgen nahm der Wirth den »guten Alten« nichts ab, sondern betrachtete es als Christenpflicht, dem Alter Wohlthat zu erweisen.

Wie aber das seltsame Paar vor seinem Weggehen für den folgenden Mittag ein Fest-Essen für mindestens dreißig Personen bestellte, kam das Erstaunen ihn an.[30]

Die beiden Alten gingen ihren Weg, das Männlein nach Valseina hinauf, das Weiblein nach der »Schloßbruck« (Felsenbach, Clus), kam aber balde wieder mit ihrem Besen zurück.

Ohne zu säumen, schlachtete der Wirth ein fettes Kalb; und nun ging es an ein Sieden und Braten, daß es eine Art hatte.

Schlag zwölfe kam auch das Männchen mit der Schaufel herangehumpelt und meinte, heute habe er schon tüchtig geschafft.

Der Wirth schien das Männlein zu fragen, wann denn die Gäste kämen, indem er über deren Ausbleiben ganz verwundert war. – Das Männlein aber gab, eigenthümlich lächelnd, Weisung zum Auftragen.

Das wunderliche Päärchen setzte sich hin, und verschlang mit unnatürlichem Heißhunger ein Gericht nach dem andern, bis das ganze Gastmahl aufgezehrt war. – Dabei schienen die zwei unheimlichen Gäste immer blasser und abgezehrter zu werden.

Den Wirth und seine Frau überlief es eiskalt. Das konnte unmöglich mit rechten Dingen zugehen.

Nach der Mahlzeit fragte das Männlein (mit einem Seitenblicke auf das Weiblein) den Wirth nach der Schuldigkeit. Der aber erkannte nun, daß er es hier nicht mit Menschen, sondern mit Geistern zu thun habe, und schlug jede Bezahlung ab.

»Wir werden Deine Freigebigkeit lohnen,« sagten die Alten.

Der Alte fügte hinzu: »Ich schufla aba, du fägst zämma.« – Damit verschwand das unheimliche Paar. –

Kaum aber waren sie fort, kam Kunde in's Haus, wie in Valseina die Pest ausgebrochen, und schon Viele daran gestorben seien. –

Balde daraus kam von Seewis herab gleicher Hiobsbericht.

Und es vergingen nicht zwei Tage, so wüthete die Pest im Prätigaue, zu Berg und Thal. Ueberall klopfte der Würgengel[31] an; wenige Häuser blieben verschont; ganze Familien, ja ganze Dörfer starben aus. – Statt des frohen, regen Lebens herrschte allerorts Todesstille; überall war Trauer. –

Einzig der Wirth in Pradisla und all' die Seinen blieben von der Pest verschont. Und jetzt wußte Derselbe, wen er vor einigen Tagen beherbergt hatte, es waren die Pest-Leutchen gewesen.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 30-32.
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