8. Die Wilden von Sassalbo.

[70] Oestlich dem Flecken Puschlav erhebt sich der riesige Sassalbo, an dessen Fuße tiefe Höhlen in das Innere des Berges dringen, die früher von »Wilden« bewohnt wurden.

Diese Wilden waren von ungewöhnlich großer Natur und ungestalt. Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit Bären als mit Menschen, und die Bewohner der umliegenden Dörfchen und Häuser redeten nur mit Schrecken von diesen Ungeheuern;[70] das auch mit Recht, denn die Wilden waren auch Menschenfresser. – Äußerst selten zeigten sie sich menschenfreundlich und dienstfertig.

Diese Wilden, im Volksmunde Salvanghi genannt, stiegen oft ins Thal herab, aber immer Nachts. Als Stock dienten ihnen Tannen, die sie gleich Grashalmen, sammt den Wurzeln aus dem Boden rissen.


Einmal fand eine »Wilde« zwei Knäblein, die im Walde sich verirrt hatten, und trug sie in die Höhle des Sassalbo. Dort gab sie ihnen manchen Leckerbissen, und versteckte sie in eine Felsenspalte, um sie nicht der Gefahr auszusetzen, von den, auf Raub ausgegangenen Männern, bei ihrer Rückkehr gefressen zu werden.

Balde hernach kamen die Männer, beutebeladen, zurück. Kaum in die Höhle eingetreten, schnupperten sie, gleich Jagdhunden, herum und sagten: »gnan, gnan, carn da cristian« (hier riecht's nach Christenfleisch). Die Wilde hatte große Mühe, den blutdürstigen Gesellen die Aufmerksamkeit auf die armen Kleinen zu benehmen, welche in Todesangst in ihrer Felsritze die Nacht verbrachten.

Am Morgen, als die bösen Männer noch schliefen, führte die Wilde die zwei Knäblein bis in die Nähe des elterlichen Hauses.


Eines Tages kam ein Wilder in die Alpe Sassiglione herab, und trat in die Sennhütte, wo die Sennen eben am Käsen waren, ein.

Die Macht und Stärke eines Wilden kennend, machten die Sennen keinen Versuch zu entrinnen, umsomehr als der Wilde ganz freundlich zu ihnen trat, und ihnen zuschaute, wie sie käseten. Muth fassend, vollendeten die Älpler ihr Geschäft und nachdem der Käse aus dem Kessel gehoben wurde, zeigte er[71] ihnen, wie man aus der »Schotte« (Molken) Wachs bereiten könne. – Indem aber der Schrecken vor dem Wilden ihnen zu sehr zugesetzt hatte, entfiel ihnen das Geheimniß, und nie mehr konnten die Sennen dessen sich besinnen.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 70-72.
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