9. Der Geist im Lochers-Gäßli bei Cur.

[139] Eine fleißige, erwachsene Tochter, welche im sog. Caviezlischen Häuschen im Lürlibade oberhalb des Lochers-Gäßli bei Cur wohnte, wollte einst Abends späte Hause zu, nachdem sie bei dem Bauern, bei dem sie gearbeitet, noch zu Nacht gegessen.

Als sie nun frohen Muthes, schnellen Schrittes im Lochers-Gäßli aufwärts ging, erblickte sie unvermuthet die Gestalt eines Capuziners, der dicht neben ihr auch das »Fürhopt« (Rasenbord zwischen Weinbergstücken) hinaufeilte, eben so schnell wie sie selber.[139]

Die sonst unerschrockene Tochter überkam doch ein Grausen ob der unheimlichen Gestalt, die sie heute zum ersten Male erblickte, wie oft und vielmal sie diesen Weg gegangen war. Sie lief schneller und immer schneller, immer gefolgt von der Gestalt.

Fast athemlos langte sie endlich beim Caviezlischen Häuschen an, wo auch ihr älterer Bruder wohnte. Derselbe war eben in der Küche, und sah, wie die Schwester so hastig der Wohnung zulief. Er öffnete schnell die Thüre, ließ die Schwester eintreten, und war noch im Stande zu schließen, bevor der unheimliche Begleiter unter das Hausdach treten konnte.

Bis vor wenig Jahren hat man von diesem Geiste gar nichts gewußt oder bemerkt; nachdem aber vor wenigen Jahren der sog. Pfaffen-Torkel dort in der Nähe abgebrannt ist, hat diese Gestalt sich sehen lassen, und zeigt sich vorzugsweise beim »Zunachten.«

Dieser Capuziner soll in diesem Torkel eingemauert gewesen, durch den Brand aber frei geworden sein.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 139-140.
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