11. Selbst dem Kukuk ist nicht mehr zu trauen.

[190] Vor vielen Jahren lebte in Puschlav ein Bauer, des Vornamens Antonio, welcher vor Allem dafür sorgte, daß sein Vieh niemals am Futter auskam.

Wenn nun heubedürftige Nachbarn zu ihm kamen, ihn baten, er möchte ihnen aushelfen, umsomehr der Frühling nahe sei, und die Anzeichen auf ein gutes Heujahr alle vorhanden seien, – war immer wieder sein Letztes: »Ich traue Niemandem mehr, als dem Kukuk, bevor ich seinen Ruf nicht höre, verkaufe ich kein Heu.« –

»Ei! so schön wie der Kukuk kann ich auch rufen und singen,« dachte einmal ein Schalk, der in Heuverlegenheit war, und ging in ein nahes Wäldchen, wo er den Ruf des prophetischen Vogels bestmöglichst nachahmte.

Dann kehrte er zurück. Antonio, unter der Stallthüre stehend, winkte ihm heran: »Jetzt kannst Du kommen, Gevatter, wenn Du Heu willst; ich habe den Kukuk gehört, und dem alleine traue ich.«

Der Gevatter, nicht faul, holte Heutuch und Waage, und kam zu Futter für sein Vieh. –[190]

Am folgenden Morgen aber kratzte Antonio in den Haaren, als frischgefallener Schnee weit und breit die Bergwiesen bedeckte.

»Selbst dem Kukuk ist nicht mehr zu trauen,« war von da an seine Redensart.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 190-191.
Lizenz:
Kategorien: