9. Wild-Mannli's Rath.

[187] Zur Zeit, als noch die liebe Einfalt in unserm Lande »gäng und gäb« (Brauch) war, geschah es einmal, daß der Geschworne Val. Suter in Tenna in seinem Garten ein ganz merkwürdiges Thier fing.[187]

Er trug das sonderbare Geschöpfe schnell heim, steckte es in seiner Frau Haubenschachtel, damit es ja nicht hart liegen müsse, und lief damit zum Pfarrer nach Versam.

Sowohl er als der Herr Pfarrer (der sonst ein gar gelehrter Mann war) hatten ihr Lebtag kein so eigenthümlich gestaltetes Thier gesehen, und da gab der Pfarrer dem Geschwornen den Rath, so schnell als möglich den Gemeinderath zusammen zu berufen, und durch Denselben untersuchen, was das für ein Thier sei, und entscheiden zu lassen, was man damit zu thun habe, denn daß Das etwas Absonderliches sei, sehe man an der schwarzen Haut, an den fürchterlich breiten »Toapen« (Tatzen) und an der spitzen Schnauze und an den kleinen, listig zugekniffenen Äuglein; es sei dieses ein Thier, das viel schlimmer sei, als ein Basilisk. Wenn Das einmal losbreche, gebe es gewiß großes Unglück.

Voll Angst, daß er nun der unglückliche Besitzer eines so landesgefährlichen Ungethüms sein müsse, und im Wahne, das sei gerechte Strafe für seine Sünden, – lief er mit dem Thiere in der Haubenschachtel heim, und beorderte noch auf den Nachmittag den Gemeinderath zur außerordentlichen Sitzung.

Der Gemeinderath versammelte sich, besah und berieth die fatale Sache, konnte aber zu keinem Entschlusse kommen, und sprach schließlich dahin sich aus, es sei rein unmöglich, darüber abzusprechen, das müsse vor die ganze Gemeinde kommen; und der Gemeinderathsweibel erhielt die Weisung, alle stimmfähigen Gemeindegenossen von Tenna, Versam, und den Höfen auf den nächsten Vormittag auf das Rathhaus in Tenna zu berufen, damit Jeder seine Meinung und Stimme abgebe, was mit dem schrecklichen, unheilvollen Thiere anzufangen sei.

Es wurde nun auf der versammelten Gemeinde der böse Casus vorgebracht, und hin und her berathen, was das wohl für eine neue Landplage sein möge.[188]

Von Allen aber konnte Keiner sich erinnern, von einem solchen Thiere je gehört oder gelesen, geschweige denn mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Man kam überein, das Ungeheuer zu beseitigen, und der Gemeinderath stimmte in seiner hohen Weisheit über diesen Fall ab, das Thier feierlich vom Leben zum Tode zu bringen.

Aber nun entstand eine weitere, sehr gewichtige Frage: Auf welche Art sollte das Ungeheuer enden. Durch Henkershand, Kopfabschneiden, Verbrennen, oder Ersäufen? Keiner wußte Rath.

Da trat ein Wild-Mannli, das in den Bergen das Vieh hütete, in die Rathsversammlung, und das wurde auch um seine Meinung gefragt.

Wild-Mannli lächelte schelmisch, und gab den Rath, das Unthier – »lebendig zu vergraben.«

Das war ein Spruch nach Aller Wille, und kostete nicht viel.

Und ungesäumet wurde ein Loch in den Garten des Geschwornen gemacht, das Thier lebend hineingethan, und schnell zugemacht. –

So kam es, daß man Denen auf Tenna nachsagt, »sie hätten ihre Scheermaus (Maulwurf) lebendig vergraben.«

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 187-189.
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