2. Der alte Tusner Nachtwächter-Ruf.

[201] Gleich nach dem Feierabend-Läuten begann der Wächter sein Amt, und zwar Sommers- und Winterszeit allabendlich um[201] acht Uhr, und er rief dann die Stunde und den Stunden-Spruch ab.

Für jede Stunde hatte er einen eigenen Segens-Spruch oder Wunsch. – Der Stundenruf war:


»Hör't Ihr Christen, und laßt Euch sagen:

Unsre Glock' hat . .... g'schlagen.«


Acht Uhr: »Unser Wachen wird nichts nützen,

Gott muß wachen, Gott muß schützen.

Herr, durch Deine Hut und Macht

Gieb uns Allen eine gute Nacht!«


Acht nur Acht zu Noah's Zeit

Waren von der Straf' befreit.


Neun Uhr: Neun versäumten Dankespflicht.

Mensch, vergiß des Dankens nicht!


Zehn Uhr: Zehn Gebote schärft Gott ein!

Laßt uns ihm gehorsam sein.


Elf Uhr: Nur elf Jünger waren treu;

Hilf Herr, daß kein Abfall sei!


Zwölf Uhr: Zwölfe ist das Ziel der Zeit.

Mensch, bedenk' der Sterblichkeit!


Ein Uhr: Eins ist Noth, Du treuer Gott:

Gieb uns einen sel'gen Tod.


Zwei Uhr: Zwei Weg' hat der Mensch vor sich;

Herr, den schmalen führe mich.


[202] Drei Uhr: Drei sind, die man göttlich heißt:

Vater, Sohn und Heiliger Geist.


Vier Uhr: Vierfach ist das Ackerfeld.

Mensch, wie ist Dein Herz bestellt!


Auf, ermuntert Eure Sinnen,

Denn die Nacht weicht schon von hinnen;

Danket Gott, der uns die Nacht

Hat so väterlich bewacht.


(Dieser Wächter-Ruf ist der schönste, sinnigste weit und breit.)

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 201-203.
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