[159] 29. Der unsterbliche Koschtschej

[159] Es war einmal ein Zar, der hatte einen einzigen Sohn. Und als dieser noch klein war, wiegten ihn die Ammen und Wärterinnen in Schlaf und sangen: »Eia, popeia, Iwan-Zarewitsch! groß wirst du werden, eine Braut für dich finden: hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Reich, da sitzt Wassilissa, Kirbits Tochter, im Turm, sichtbar fließt ihr das Mark von einem Knöchelchen ins andere.«

Als der Zarensohn fünfzehn Jahre alt geworden war, erbat er seines Vaters Erlaubnis, in die Welt hinaus zu reiten und sich die Braut zu suchen. »Wohin willst du denn reiten? Du bist ja noch viel zu klein!« – »Nein, Väterchen! Als ich klein war, wiegten mich die Ammen und Wärterinnen in den Schlaf und taten mir kund, wo meine Braut lebt; jetzt will ich fortreiten und sie aufsuchen.« Der Vater segnete ihn und sandte in alle Reiche die Botschaft, daß sein Sohn Iwan auf die Brautsuche geritten sei.

Der Zarensohn kam in eine Stadt, stellte sein Pferd ein und ging durch die Straßen spazieren. Da sah er, wie man auf dem Marktplatz einen Menschen durchpeitschte. »Wofür«, fragte er, »schlagt ihr diesen mit der Knute?« – »Dafür, daß er einem angesehenen Kaufmann zehntausend Rubel schuldet und sie nicht zur rechten Zeit zurückgezahlt hat; wer ihn aber loskauft, dem wird der unsterbliche Koschtschej die Frau entführen.« Da bedachte sich der Zarensohn, überlegte sich's und ging davon. Er spazierte in der Stadt umher und kam wieder auf den Marktplatz, dort aber schlug man jenen Mann noch immer. Iwan-Zarewitsch fühlte Mitleid mit ihm und beschloß, ihn loszukaufen. »Ich hab ja keine Frau«, dachte er, »mir[160] kann auch keine entführt werden.« Er bezahlte zehntausend Rubel und ging nach Hause. Da lief ihm jener nach, den er freigekauft hatte, und schrie: »Dank dir, Iwan-Zarewitsch! Hättest du mich jedoch nicht losgekauft, würdest du bis in alle Ewigkeit deine Braut nicht gewinnen. Jetzt will ich dir aber helfen; kauf mir schnell ein Pferd und einen Sattel.« Der Zarensohn kaufte ihm Pferd und Sattel und fragte: »Wie ist denn dein Name?« – »Stahlheld werd ich genannt.«

Sie saßen auf und ritten über Weg und Steg. Als sie in das dreimal zehnte Reich kamen, sagte Stahlheld: »Jetzt, Iwan-Zarewitsch, befiehl Hühner, Enten und Gänse zu kaufen und zu braten, damit von allem reichlich da sei! Ich aber gehe, dir die Braut zu verschaffen. Doch gib acht: jedesmal, wenn ich zu dir gelaufen komme, schneide von einem der Braten das rechte Flügelchen ab und reich es mir auf einem Teller.« Stahlheld ging geradeswegs zum hohen Turm, in dem Wassilissa, Kirbits Tochter, saß, warf mit leichter Hand Steinchen in die Höh und zerbrach den vergoldeten Dachfirst. Dann lief er zu Iwan-Zarensohn zurück und rief: »Was schläfst du! Gib mir ein Huhn.« Iwan schnitt das rechte Flügelchen ab und reichte es auf einem Teller. Stahlheld nahm ihn, lief zum Turm und rief: »Guten Tag, Wassilissa, Kirbits Tochter! Iwan Zarensohn befahl Euch zu grüßen und bat mich, dieses Hühnchen Euch zu überbringen.« Sie erschrak, saß da und erwiderte nichts; er aber antwortete statt ihrer selbst: »Guten Tag, Stahlheld! Ist Iwan-Zarewitsch wohlauf?« – »Gottlob, er ist gesund.« – »Aber was stehst du da, Stahlheld? Nimm das Schlüsselchen, öffne das Schränkchen, trink ein Gläschen Schnaps und geh mit Gott.«

[161] Stahlheld kam zu Iwan-Zarensohn gelaufen und rief: »Was sitzt du da! Gib mir eine Ente.« Iwan schnitt das rechte Flügelchen ab und reichte es auf einem Teller. Stahlheld nahm es und brachte es zum Turm. »Guten Tag, Wassilissa, Kirbits Tochter! Iwan-Zarewitsch befahl Euch zu grüßen und schickt Euch diese Ente.« Sie saß und erwiderte nichts, er aber antwortete statt ihrer selbst: »Guten Tag, Stahlheld! Ist der Zarensohn wohlauf?« – »Gottlob, er ist gesund!« – »Aber was stehst du da, Stahlheld? Nimm das Schlüsselchen, öffne das Schränkchen, trink ein Gläschen Schnaps und geh mit Gott.« Stahlheld kam zu Iwan-Zarensohn gelaufen und sagte wiederum zu ihm: »Was sitzt du da! Gib mir eine Gans.« Iwan schnitt das rechte Flügelchen ab, legte es auf einen Teller und reichte es ihm. Stahlheld nahm es und trug es zum Turm. »Guten Tag, Wassilissa, Kirbits Tochter! Iwan-Zarewitsch befahl Euch zu grüßen und schickt Euch eine Gans.« Da nahm Wassilissa, Kirbits Tochter, sogleich den Schlüssel, öffnete den Schrank und reichte ein Gläschen Schnaps. Stahlheld aber ergriff nicht das Gläschen, sondern faßte die Jungfrau bei der rechten Hand, zog sie heraus aus dem Turm und setzte sie zu Iwan-Zarewitsch auf das Pferd. Dann sprengten die kühnen Burschen mit der wunderschönen Jungfrau davon, was die Pferde laufen wollten. Am andern Morgen erwachte Zar Kirbit, erhob sich und sah, daß der Dachfirst des Turmes zerbrochen, seine Tochter aber entführt war. Er geriet in großen Zorn und befahl, auf allen Wegen und Stegen die Verfolgung aufzunehmen.

War es lang darauf, war es kurz, daß unsere Helden fortgeritten waren, da nahm Stahlheld seinen Ring vom Finger, versteckte ihn und sagte: »Reit zu, Iwan-Zarewitsch, ich aber will umkehren, meinen Ring zu suchen!«

[162] Doch Wassilissa, Kirbits Tochter, suchte ihn zu überreden: »Laß uns nicht allein, Stahlheld! Willst du, so geb ich dir meinen Ring.« Stahlheld antwortete: »Es geht nicht, Wassilissa! Mein Ring ist von unschätzbarem Wert, meine Mutter hat ihn mir gegeben und gesagt: ›Trag ihn, verlier ihn nicht und vergiß deine Mutter nicht!‹« Stahlheld sprengte zurück und stieß unterwegs auf die Verfolger. Er schlug sie alle tot, ließ nur einen einzigen übrig, damit er dem Zaren Kunde brächte, und dann eilte er Iwan-Zarewitsch nach.

War es lang darauf, war es kurz, daß sie geritten waren, da versteckte Stahlheld sein Tuch und sagte: »Ach, Iwan-Zarewitsch! Ich hab mein Tuch verloren; reitet ihr nur über Weg und Steg, ich werd euch bald wieder einholen.« Er kehrte um, ritt einige Werst zurück und traf auf eine zweimal größere Zahl Verfolger, erschlug sie alle und kehrte zu Iwan-Zarewitsch zurück. Der fragte ihn: »Hast du dein Tuch gefunden?« – »Ja, ich hab es gefunden.« Die dunkle Nacht überfiel sie, da schlugen sie ihr Zelt auf. Stahlheld legte sich schlafen, ließ aber Iwan-Zarewitsch Wache stehn und sagte zu ihm: »Rührt sich etwas, so weck mich auf.« Der Zarensohn stand und stand und wurde müde; der Schlaf überfiel ihn, er setzte sich beim Zelte nieder und schlief ein. Da trug der unsterbliche Koschtschej, ehe man sich's versah, Wassilissa, Kirbits Tochter, weg. Als die Morgenröte emporstieg, erwachte Iwan-Zarewitsch, sah, daß seine Braut verschwunden war, und fing an bitterlich zu weinen. Auch Stahlheld wachte auf und fragte ihn: »Warum weinst du?« – »Wie sollt ich nicht weinen? Jemand hat Wassilissa, Kirbits Tochter, entführt.« – »Ich hab dir doch gesagt: steh Wache! Der unsterbliche Koschtschej hat es getan; komm, laß uns ihn suchen.«

[163] Lange, lange waren sie geritten, da sahen sie zwei Hirten eine Herde hüten. »Wessen Herde ist das?« Die Hirten antworteten: »Sie gehört dem unsterblichen Koschtschej.« Stahlheld und Iwan-Zarewitsch fragten die Hirten aus, wie weit es sei bis zum Hause Koschtschejs, wie man da hinkäme, wann sie mit den Herden heimkehrten, und wo sie sie einsperrten. Dann stiegen sie von den Rossen, drehten den Hirten die Hälse um, legten ihre Kleider an und trieben die Herden nach Hause; sie trieben sie bis zum Tor und blieben dort stehn.

Iwan-Zarewitsch hatte einen goldenen Fingerring, den ihm Wassilissa, Kirbits Tochter, geschenkt hatte. Wassilissa aber hielt sich eine Ziege, und jeden Morgen und jeden Abend badete sie sich in deren Milch. Eine Magd kam mit einer Schüssel gelaufen, melkte die Ziege und trug die Milch fort; Stahlheld aber nahm den Ring von Iwan-Zarewitsch und warf ihn in die Schüssel. »He, ihr guten Gesellen!« sagte das Mädchen, »ihr treibt bösen Unfug!« Sie kam zu Wassilissa, Kirbits Tochter, und beklagte sich: »Heute haben die Hirten uns verhöhnt: sie warfen einen Ring in die Milch!« Jene antwortete ihr: »Laß die Milch stehn, ich selbst werde sie durchseihen.« Sie tat es, erblickte ihren Ring und befahl, die Hirten herbeizuholen. Die Hirten kamen. »Guten Tag, Wassilissa, Kirbits Tochter!« sagte Stahlheld. »Guten Tag, Stahlheld! Guten Tag, Zarensohn! Wie hat Gott euch hierhergeführt?« – »Wir sind Euch holen gekommen, Wassilissa, Kirbits Tochter; Ihr könnt uns nirgends verborgen bleiben, und wenn's auf dem Boden des Meeres wäre, selbst dort würden wir Euch finden!« Sie setzte die beiden an den Tisch, gab ihnen allerlei Speisen zu essen und Weine zu trinken. Dann sagte Stahlheld: [164] »Wenn der unsterbliche Koschtschej von der Jagd zurückkehrt, dann frag ihn aus, Wassilissa, Kirbits Tochter, wo sein Tod ist. Jetzt aber wäre es gut, daß wir uns versteckten.«

Kaum hatten sich die Gäste verborgen, als der unsterbliche Koschtschej von der Jagd angeflogen kam. »Pfui, pfui«, sagte er, »früher war hier von Russengeruch nichts zu spüren und nichts zu merken, jetzt aber seh ich Russenfleisch mit eigenen Augen und schmeck es auf den eigenen Lippen.« Wassilissa, Kirbits Tochter, erwiderte: »Du bist ja selbst zu den Russen geflogen, hast den Geruch wohl dort eingesogen, darum witterst du ihn auch hier!« Koschtschej aß zu Mittag und legte sich dann hin, um auszuruhen. Wassilissa, Kirbits Tochter, kam zu ihm, warf sich ihm an den Hals, herzte und küßte ihn und sagte: »Mein liebster Freund, mit Sehnsucht hab ich dich erwartet! Ich fürchtete schon, dich nicht mehr lebend wiederzusehen; dachte, die reißenden Tiere hätten dich gefressen!« Koschtschej lachte auf: »Dummes Weib! Lange Haare, kurzer Verstand! Können mich denn die wilden Tiere fressen?« – »Ja, wo ist denn aber dein Tod?« – »Mein Tod, der ist im Besen, wälzt sich dort unter der Schwelle.«

Kaum war Koschtschej wieder fortgeflogen, als Wassilissa, Kirbits Tochter, zu Iwan-Zarewitsch gelaufen kam. Stahlheld fragte sie: »Sag an, wo ist denn der Tod Koschtschejs?« – »Im Besen dort unter der Schwelle.« – »Nein, das ist gelogen! Du mußt ihn schlauer ausfragen.« Wassilissa, Kirbits Tochter, dachte sich gleich etwas aus: sie hob den Besen auf, vergoldete ihn und schmückte ihn mit farbigen Bändern und legte ihn auf den Tisch. Als der unsterbliche Koschtschej wieder angeflogen kam, sah er den vergoldeten Besen auf dem Tisch und fragte: »Warum hast du das getan?« – »Es geht nicht an«, antwortete Wassilissa, »daß dein Tod sich unter der Schwelle wälzt; er [165] soll besser hier auf dem Tische liegen.« – »Ha, ha, ha, dummes Weib! Lange Haare, kurzer Verstand! Ist denn mein Tod dort drin?« – »Aber wo ist er denn?« – »Mein Tod ist im Ziegenbock verborgen.«

Kaum war Koschtschej fort zur Jagd, als Wassilissa, Kirbits Tochter, den Ziegenbock mit Bändern und Glöckchen schmückte und ihm die Hörner vergoldete. Als Koschtschej das erblickte, lachte er wieder auf: »Ach, dummes Weib! Lange Haare, kurzer Verstand! Mein Tod ist weit von hier: im Meer, im fernen Ozean, liegt eine Insel, auf der Insel aber steht eine Eiche, und unter der Eiche ist ein Kasten vergraben; im Kasten ist ein Hase, im Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, im Ei aber, da steckt mein Tod!« Er sagte es und flog davon. Wassilissa, Kirbits Tochter, erzählte Stahlheld und Iwan-Zarewitsch alles wieder; sie steckten Vorräte zu sich und gingen, den Tod Koschtschejs zu suchen.

War es lang, war es bald darauf, da hatten sie ihren ganzen Vorrat aufgezehrt und fingen an zu hungern. Eine Hündin mit Jungen kam ihnen entgegen. »Ich will sie töten«, sagte Stahlheld, »denn wir haben nichts mehr zu essen.« – »Töte mich nicht, und mach meine Kinder nicht zu Waisen«, bat die Hündin; »ich selbst werde dir noch nützlich sein.« – »Dann sei Gott mit dir!« Sie gingen weiter; da saß auf einer Eiche ein Adler mit seinen Jungen. Stahlheld sagte: »Ich werde den Adler töten.« Der Adler erwiderte: »Töte mich nicht, mach meine Kinder nicht zu Waisen; ich selbst werde dir noch nützen!« – »Mag es so sein, leb weiter und bleib gesund!« Sie kamen zum Meer, zum breiten Ozean; am Ufer aber kroch ein Krebs. Stahlheld sagte: »Ich werd ihn töten.« Der Krebs antwortete: »Töte mich nicht, guter Held! Du hast an mir wenig Gewinn; ißt du mich auch, satt wirst [166] du doch nicht. Kommt aber die Zeit, so werd ich dir nützlich sein!« – »Nun, dann kriech mit Gott!« sagte Stahlheld, schaute hinaus auf das Meer, erblickte einen Fischer im Boot und rief ihm zu: »Leg am Ufer an!« Der Fischer kam mit dem Boot heran; Iwan-Zarensohn und Stahlheld setzten sich hinein und fuhren zu der Insel; sie langten dort an und gingen zur Eiche. Stahlheld packte die Eiche mit riesenstarken Armen und riß sie samt der Wurzel aus; dann zog er den Kasten hervor, öffnete ihn; ein Hase sprang heraus und lief davon, was das Zeug hielt. »Ach, wenn doch jetzt die Hündin da wäre!« sagte Iwan-Zarewitsch, »die würde den Hasen schon fangen.« Und sieh! da schleppte die Hündin schon den Hasen herbei. Stahlheld zerriß ihn, und aus dem Hasen flog eine Ente hervor und schwang sich hoch empor gen Himmel. »Ach, wenn doch jetzt der Adler da wäre!« rief Iwan-Zarewitsch aus, »der würde die Ente schon fangen.« Der Adler aber trug die Ente schon herbei. Stahlheld zerriß die Ente, ein Ei kollerte hinaus und fiel ins Meer. »Ach, wenn der Krebs doch das Ei herausholte!« sagte der Zarensohn. Der Krebs aber kroch schon heran und schleppte das Ei. Sie nahmen es mit, gingen zurück zum unsterblichen Koschtschej und warfen ihm das Ei an die Stirn – er streckte alle viere von sich und war tot. Iwan-Zarewitsch aber machte sich mit Wassilissa, Kirbits Tochter, auf den Weg.

Sie ritten und ritten; die dunkle Nacht überfiel sie; da schlugen sie ihr Zelt auf, und Wassilissa, Kirbits Tochter, legte sich schlafen. Stahlheld sagte: »Leg auch du dich hin, Zarensohn, ich werde Wache stehn.« Mitten in finsterer Nacht kamen zwölf Tauben geflogen, schlugen Flügel wider Flügel und verwandelten sich in zwölf Jungfrauen. Sie sprachen: »Stahlheld und Iwan-Zarewitsch! [167] Ihr habt unsern Bruder Koschtschej getötet, ihr habt unsere Brudersfrau Wassilissa entführt, dafür wird euch nichts Gutes widerfahren: wenn Iwan-Zarewitsch heimkommt und befiehlt, sein Lieblingshündchen ihm vorzuführen, so wird es dem Wärter entspringen und den Zarensohn in kleine Stücke zerreißen; wer das aber hört und sagt es ihm, der wird bis an die Knie zu Stein!«

Am Morgen früh weckte Stahlheld den Zarensohn und Wassilissa, Kirbits Tochter; sie machten sich auf und ritten über Weg und Steg. Die zweite Nacht ereilte sie; auf freiem Feld schlugen sie das Zelt auf. Wieder sagte Stahlheld: »Leg dich schlafen, Iwan-Zarewitsch, ich aber werde wachen.« Mitten in finsterer Nacht kamen die zwölf Tauben geflogen, schlugen Flügel wider Flügel und verwandelten sich in zwölf Jungfrauen. Sie sprachen: »Stahlheld und Iwan-Zare witsch! Ihr habt unsern Bruder Koschtschej getötet, ihr habt unsere Brudersfrau Wassilissa entführt, dafür wird euch nichts Gutes widerfahren: wenn Iwan-Zarewitsch heimkommt und befiehlt, sein Lieblingsroß ihm vorzuführen, auf dem er seit seiner Kindheit gewohnt ist zu reiten, wird das Roß sich vom Stallknecht losreißen und den Zarensohn erschlagen, wer das aber hört und sagt es ihm, der wird bis an den Gürtel zu Stein!«

Der Morgen kam, und sie ritten weiter. Die dritte Nacht ereilte sie; das Zelt schlugen sie auf und nächtigten auf freiem Felde. Stahlheld sagte: »Leg dich schlafen, Iwan-Zarewitsch, ich aber werde wachen.« Wieder kamen mitten in finsterer Nacht die zwölf Tauben geflogen, schlugen Flügel wider Flügel und verwandelten sich in zwölf Jungfrauen. »Stahlheld und Iwan-Zarewitsch! Ihr habt unsern Bruder Koschtschej getötet, ihr habt unsere Brudersfrau Wassilissa entführt, dafür wird euch nichts Gutes widerfahren:[168] wenn Iwan-Zarewitsch heimkommt und befiehlt, seine Lieblingskuh ihm vorzuführen, deren Milch er seit seiner Kindheit trinkt, wird die Kuh sich vom Viehknecht losreißen und den Zarensohn auf die Hörner nehmen; wer uns aber sieht und hört und sagt es ihm, der wird vom Kopf bis zu den Füßen zu Stein!« So sprachen sie, verwandelten sich in Tauben und flogen davon.

Am Morgen früh erwachten Iwan-Zarewitsch und Wassilissa, Kirbits Tochter, und machten sich auf den Weg. Sie langten zu Hause an, und der Zarensohn hielt Hochzeit mit Wassilissa, Kirbits Tochter. Einen Tag darauf oder zwei sagte er zu ihr: »Willst du, so werde ich dir mein Lieblingshündchen zeigen? Als ich klein war, hab ich immer mit ihm gespielt.« Stahlheld nahm seinen Säbel, schliff ihn haarscharf und stellte sich an die Freitreppe. Da führte man das Hündchen herbei; es riß sich vom Wärter los und lief geradewegs auf die Freitreppe zu, Stahlheld aber holte mit dem Säbel aus und hieb es mitten durch. Iwan-Zarewitsch ward zornig auf ihn, schwieg aber wegen der vielen Dienste, die er ihm geleistet hatte, und sagte nichts dawider. Am nächsten Tage befahl er, sein Lieblingsroß vorzuführen; das Roß zerriß das Halfter, lief dem Stallknecht davon und rannte geradeswegs auf den Zarensohn zu; Stahlheld aber schlug ihm den Kopf ab. Iwan-Zarewitsch geriet in noch größeren Zorn und wollte Befehl geben, ihn aufzuhängen, aber Wassilissa, Kirbits Tochter, bat ihn: »Wenn er nicht gewesen wäre, hättest du mich nie erlangt!« Am dritten Tage befahl Iwan-Zarewitsch, seine Lieblingskuh vorzuführen; sie riß sich vom Dienstknecht los und rannte geradeswegs auf den Zarensohn zu. Stahlheld schlug auch ihr den Kopf ab. Da geriet jedoch Iwan-Zarewitsch in solche [169] Wut, daß er auf keinen mehr hörte. Er befahl, den Henker zu rufen und Stahlheld sofort aufzuhängen. »Ach, Iwan-Zarewitsch! Willst du mich durch den Henker richten lassen, so will ich lieber freiwillig sterben. Erlaube mir nur, drei Dinge zu sagen.« Und Stahlheld erzählte von der ersten Nacht, wie auf dem freien Felde die zwölf Tauben angeflogen kamen und was sie gesagt hatten – und sogleich ward er zu Stein bis an die Knie. Er erzählte von der nächsten Nacht – und ward zu Stein bis an den Gürtel. Da bat ihn Iwan-Zarewitsch, er möge nicht bis zu Ende erzählen, aber Stahlheld antwortete: »Jetzt ist alles gleich: bin ich schon bis zur Hälfte zu Stein geworden, so lohnt es nicht mehr zu leben!« Und er erzählte von der dritten Nacht und ward ganz zu Stein. Iwan-Zarewitsch ließ ihn in ein besonderes Gemach bringen und ging jeden Tag mit Wassilissa, Kirbits Tochter, dorthin und weinte bitterlich.

Danach vergingen viele Jahre. Und einmal, als Iwan-Zarewitsch wieder über den versteinerten Stahlheld Tränen vergoß, hörte er eine Stimme aus dem Steine sprechen: »Warum weinst du? Mir ist das Herz schwer genug!« – »Wie sollt ich nicht weinen? Ich war ja dein Verderben.« – »Willst du, so kannst du mich wohl retten. Du hast zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, nimm und schlachte sie, zapf ihr Blut ab und bestreiche mit dem Blut den Stein.« Iwan-Zarewitsch erzählte Wassilissa, Kirbits Tochter, was er gehört hatte. Sie wurden beide traurig und grämten sich, aber beschlossen zuletzt, ihre Kinder zu töten. Sie schlachteten sie und zapften das Blut ab; und kaum hatten sie den Stein bestrichen, als Stahlheld wieder lebendig wurde. Er fragte den Zarensohn und seine Frau: »Ist es euch leid um eure Kinder?« – »Ja, Stahlheld, sehr leid.«

[170] Da schnitt sich Stahlheld in den Finger und machte mit seinem Blut ein Kreuz auf die Kinder des Zarensohns, und sie wurden in demselben Augenblick wieder lebendig. Vater und Mutter aber waren sehr froh und ließen in ihrer Freude ein reiches Mahl richten für alle Welt.


Bei dem Schmaus, auf mein Wort,

Met und Wein trank ich dort!

Über den Schnurrbart floß es, kam nicht in den Mund hinein,

Doch fühlte ich mich satt und trunken vom Wein.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 159-171.
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