[251] 42. Der hölzerne Adler

In einem kleinen Lande lag einmal ein Zarenreich von der Größe eines Siebes; und in diesem Reiche herrschte ein Zar, der hatte einen Sohn; das Volk aber war nur Säuferpack. Eines Tages fanden sich drei Männer in der Schenke zusammen, saßen da und tranken und redeten miteinander. Der eine sagte: »Wenn ich nur das Instrument hätte, so würd ich, mag ich auch bloß ein Säufer sein, einen hölzernen Adler machen.« Der zweite sprach: »Ich würd aber dazu eine Schraube anfertigen, damit er fliegen könnte; drehte[251] man sie nach links, flög er nach unten, nach rechts, flög er nach oben.« Der dritte aber sagte: »Ich bin ein sehr geschickter Vergolder, ich könnt ihn dann mit Gold überziehen.« Während sie aber so sprachen, war der Zarensohn in die Schenke gekommen, sah sich die drei an, fragte sie nach den Namen und kaufte ihnen eine Flasche Schnaps. Sie tranken sie aus, bedankten sich und gingen ihrer Wege.

Ein paar Tage vergingen, und dann wurden die drei Leute zum Zaren gerufen. Sie kamen hin; man fragte sie nach ihren Vornamen wie auch nach ihren Familiennamen. »Ihr wolltet einen hölzernen Adler bauen?« fragte der Zar. »Jawohl.« – »Was verlangt ihr dafür?« – »Tausend Rubel brauchen wir dazu.« Sie bekamen fünfhundert Rubel Anzahlung, vertranken das Geld, aber dachten nicht daran, den Adler zu bauen. Wieder vergingen ein paar Tage; sie kamen wieder zum Zaren und baten um Geld. »Gib uns, bitte, Geld, es hat nicht zum Vergolden gereicht.« Da gab ihnen der Zar die andern fünfhundert. Sie vertranken vierhundert, kauften für hundert Rubel das Instrument und machten sich daran, den Adler herzustellen. Sie bauten ihn, wie sich's gehört, und meldeten dem Zaren, daß der Adler fertig sei. Der Zarensohn belud den Adler mit Vorräten, schwang sich in die Höh und flog davon, Gott weiß wohin. Fort war er, und länger als einen Monat schon sah man nichts von ihm. Da trauerte der Zar und dachte: »Sie haben eine Falle gestellt, um meinen Sohn zu fangen.« Er ließ die drei Kerle ergreifen und sperrte sie ein.

Der Zarensohn aber flog und flog und kam in ein anderes Reich. Er ging zu einer alten Frau und blieb bei ihr wohnen. Dort lebte er und erfuhr, daß in der Stadt ein Turm stünde. Die Alte aber erzählte ihm: »In dem Turm ist die Königstochter unschuldig eingesperrt und von ihrem Vater [252] dorthin verbannt worden. Denn einstmals ist dem russischen Zaren ein Sohn und unserem König eine Tochter geboren worden, und da gaben sie einander das Wort, daß die Kinder Braut und Bräutigam werden sollten. Darum hat der König seine Tochter in den Turm gesetzt, damit sie dort bliebe, bis ihr Verlobter kommen würde.«

Der Zarensohn band den Adler in ein Bündel, man konnte ihn auseinandernehmen und wieder zusammenlegen, und ging zum Turm. Dann setzte er sich auf den Adler, schwang sich in die Höh und ließ sich auf dem Dache nieder. Vom Dach aber führte ein Gang hinunter, denn von oben drohte ja keine Gefahr. Es war schon dunkel geworden, und die Ammen und Dienerinnen schliefen. Der Zarensohn ging nun in den Turm, doch überall waren kristallene Türen, und keine von ihnen vermochte er zu öffnen. Irgendwie gelang es ihm aber, bis zum Schlafgemach durchzudringen; er öffnete die Türe: da schlief die Königstochter und hatte sich entblößt. Er schaute sie lange, lange an und berührte sie mit der Hand. Sie erwachte, sah, daß ein Mann vor ihr stand, und sprach: »Geht fort von hier und laßt mich meine Kleider anlegen.« Er ging hinaus, und sie zog sich an und fragte ihn dann aus, wer er sei und was er wolle. Er erzählte ihr, wie er eingedrungen sei. Und sie saßen beieinander, schwatzten und unterhielten sich, und schließlich ging der Zarensohn wieder fort.

Am nächsten Tage kamen sie abermals zusammen, und er genoß ihrer. Sie ward davon schwanger und schrieb ihren Eltern in einem Brief, daß im Traum ihr Verlobter zu ihr gekommen sei und daß ihr Hemd die Spuren davon trage; das war aber alles in Wirklichkeit geschehen. Der Vater schmunzelte dazu und sagte: »Wie ist denn das möglich? Sie hat in ihrem Leben keinen Mann gesehen und will das im Traum erblickt haben! Ob nicht jemand in Wirklichkeit zu ihr kommt?« Und nächtlicherweile bestrich er das Dach mit [253] Mennig. »Geht jemand zu ihr, so wird ein Stoffhärchen kleben bleiben oder auf dem Dach eine Spur zu sehen sein.« Doch der Zarensohn ahnte davon nichts, flog in der Nacht hin, ließ sich auf dem Dache nieder und ging hinein; er strich aber von der Farbe ab und beschmierte sich Mantel, Kleider und Galoschen. Er schlief die Nacht über bei der Königstochter, kehrte zur Alten zurück, als sei nichts geschehen, zog sich aus und legte sich schlafen. Am Morgen schaute der König auf dem Dache nach, er fand ein Stoffhärchen und Spuren an der Farbe; gleich ließ er in der ganzen Stadt Nachforschung halten. Polizei und Soldaten suchten überall, doch konnten sie keinen finden. Da ging ein Polizist bei jener Alten vorbei, wo der Zarensohn lebte, und rief: »Gevatterin, gebt mir, bitte, ein Zündholz zum Anrauchen!« Sie antwortete jedoch: »Ich kann nicht hinausgehn, kommt selbst hinein und raucht an.« Der Polizist ging hinein und erblickte den Mantel, der ganz mit Mennig beschmiert war. Da weckte er den Zarensohn und führte ihn vor den König zum Verhör. Der König fragte ihn: »Wie konntest du dort hineingelangen? Wer hat dich eingelassen?« – »Ich war nicht bei euch«, antwortete der Zarensohn. Sprach der König darauf zu ihm: »Bekennst du nicht deine Tat und sagst mir nicht, daß du es warst, so mache ich dir den Prozeß.« Der Zarensohn antwortete: »Richte mich, aber ich bin nicht zu ihr gegangen.« Und auch die Königstochter gestand nichts ein. Da verurteilte ihn der Zar zum Tode; und gegen Abend wurde das Urteil verlesen, und man brachte den Zarensohn auf den Richtplatz. Als man ihn auf das Schafott führte, sagte er: »Erlaubt mir, Königliche Hoheit, noch ein Wort zu sagen!« Der König erlaubte es. Und er sprach: »Laßt mich noch eine halbe Stunde leben, Königliche Hoheit!« Auch das wurde ihm gestattet. Da zog der Zarensohn seinen Adler hervor und breitete ihn aus, drehte nach rechts und [254] schwang sich in die Höhe, dorthin, wo sich seine Braut befand. Er flog auf den Turm, nahm die Königstochter mit und machte sich auf und davon in sein eigenes Reich.

Jene drei Kerle aber saßen im Gefängnis; und es kamen die letzten Tage, die sie noch zu leben hatten. Als aber ihr letztes Stündlein herannahte, baten sie den Zaren um ein Fernglas und schauten aus, ob sie den Adler nicht erblicken könnten. Da sah einer von ihnen einen Vogel fliegen, und der schlug nicht mit den Flügeln. Sie warteten ein wenig: und richtig, der Adler kam geflogen! Der Zarensohn war zurückgekehrt, und der Zar gab den dreien die Erlaubnis, in alle Schenken zu gehn und zu saufen, wieviel sie nur wollten. Der Zarensohn aber heiratete die Königstochter, die er mitgebracht hatte.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 251-255.
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