[291] 50. Der Bauer und die goldne Sonne

Es war einmal ein Bauer, der besaß kein Haus. Er diente um Tagelohn und bedang sich einen halben Hektar Weizen und ein Pferd aus. Doch als der Herbst kam, erfror ihm der Weizen, und die Wölfe fraßen ihm das Pferd auf. Der Bauer verließ seinen Wirt und ging fort, um sich einem andern zu verdingen. Da begegnete ihm auf dem Wege ein Herr, und der fragte ihn: »Wohin gehst du, Bauer?« Der Bauer antwortete ihm: »Ich gehe mich verdingen.« – »Komm zu mir, Feuer unter einen Kessel legen.« – »Was hast du im Kessel?« – »Fettgrieben.« Das waren aber keine Fettgrieben, sondern die Sünder in der Hölle. Und er mietete ihn und sagte: »Nun mußt du recht hurtig das Holz unter den Kessel legen, damit es ein starkes Feuer gibt.« Der Bauer verdingte sich und warf immer flink die Scheite nach, und sie brannten hell. Da rief ihm vom Himmel ein Engel zu: »Bauer, leg das Holz langsamer nach!« Der Bauer fing an, das Feuer bedachtsamer zu schüren. Der Herr aber bemerkte es und wollte mit ihm abrechnen. Der[291] Engel im Himmel rief dem Bauern zu: »Nimm nichts außer Fettgrieben!« Der Herr wollte in Gold und Silber mit ihm abrechnen, aber der Bauer nahm nichts an und sagte: »Gib mir von den Fettgrieben.« Da gab er ihm davon.

Der Bauer ging an einem Flüßchen entlang, war bald müde geworden, legte sich zur Ruh und schlief fest ein, aber unterdessen zerflossen ihm die Fettgrieben. Der Bauer wachte auf, da waren die Fettgrieben fort. Er ging am Flüßchen weiter. Dort schwamm eine Ente und rief dem Bauern zu: »Großväterchen, nimm mich heraus!« Er tat es, und sie verwandelte sich in eine Jungfrau. »Jetzt werd ich dein Weib sein«, sagte sie. Er nahm sie mit sich und ging in seine Heimat. Zu Hause aber waren alle Leute auf seine Frau versessen und dachten nach, wie sie sie ihm wohl fortnehmen könnten. »Geh hin und suche zu erfahren, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht, dann werden wir dir die Frau nicht nehmen«, sprachen sie zu ihm. Sein Weib aber wickelte ein Garn Bindfaden zu einem Knäuel und sagte: »Wohin das Knäuel rollt, dorthin geh auch du; tritt jedoch zuvor dreimal über mich hinüber: dann verwandle ich mich in ein Steinchen.« Er trat dreimal über sie hinüber, und sie ward zu einem Steinchen; er legte es vorn in den Winkel der Stube. Die Frau aber war die Schwester der Sonne.

Das Knäuel rollte davon, und der Bauer ging hinterher. Die Nachbarn aber versammelten sich, und weil er fort war, wollten sie ihm die Frau doch wegnehmen, konnten sie aber nicht finden. Da jagten sie ihm nach und fragten: »Wo hast du sie versteckt?« – »Zu Hause hab ich sie gelassen.« Er kam zu einem Hüttchen und ging hinein. Drinnen saß ein altes Weib. »Woher kommst du, mein Schwiegersöhnchen?«

[292] »Großmütterchen, sie wollten mir die Frau nehmen und sagten: geh hin und suche zu erfahren, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht, dann nehmen wir dir die Frau nicht fort.« – »Kindchen, kriech unter den Badequast, sonst kommt die Sonne angerollt und verbrennt dich.« Er kroch unter den Badequast, und die Alte bedeckte ihn. Die Sonne kam herein. »Was riecht es bei dir, Mütterchen, so nach Menschenfleisch?« – »Kindchen, bei mir riecht nichts nach Menschen, nichts ist von ihnen hier.« Die Sonne ging baden, kam nachher aus der Badstube heraus und setzte sich hin, Tee zu trinken. »Und doch riecht's bei dir, Mütterchen, nach Menschenfleisch!« sagte sie. »Nun ja, Kindchen! Das Schwiegersöhnchen ist bei mir zu Gast.« – »Wo ist er? Er soll hervorkommen!« Der Bauer trat hervor. »Weswegen bist du hierhergekommen?« – »Sie wollten mir die Frau fortnehmen und sandten mich aus zu erfahren, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht.« – »Ich werde dich morgen in meinen Wagen setzen, der wird dich fahren, und dann wirst du sehen, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht.«

Am Morgen stand die Sonne auf und setzte den Bauern in ihren Wagen, und er fuhr davon. Da kam ihm der heilige Georg entgegen und fiel auf die Knie. »Guten Tag, gerechte rote Sonne!« Der Bauer stieg aus dem Wagen und schlug den heiligen Georg, bis er grün und blau wurde. Dann fuhr er weiter bis zum mittäglichen Palast der Sonne. Dort war alles von Gold und Silber; und er zerbrach und zerschlug alles bis aufs letzte. Dann kehrte er heim. Und als er angelangt war, fragte die Sonne: »Weißt du jetzt, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht?« – »Ja, ich weiß es.« – »Nun, dann will ich jetzt fahren, bleib du aber noch einen Tag als Gast.« Die Sonne ging auf die Reise, und der Bauer blieb noch einen Tag in ihrem Hause.

[293] Der heilige Georg kam der Sonne entgegen, fiel auf die Knie und sagte: »Guten Tag, gerechte rote Sonne! Was für einen gemeinen Kerl hast du gestern in deinen Wagen gesetzt? Er hat mich von oben bis unten verprügelt und zum Krüppel geschlagen.« – »Wart ein wenig, ich fahre heim und verbrenn ihn!« Sie kam in ihren mittäglichen Palast: dort war alles zerbrochen und zerschlagen. »Na, wart mal!« rief sie, »ich will dich zu Asche verbrennen!« Dann kam sie heim und fragte: »Wo ist der Bauer, Mütterchen? Er soll herauskriechen!« Er tat es, und sie fragte ihn: »Wofür hast du den heiligen Georg verprügelt?« – »Weißt du noch, ich hatte mir vom Wirt ein Pferd ausbedungen? Warum hat er es aber den Wölfen zum Fraß gegeben?« – »Warum hast du aber in meinem mittäglichen Palast alles zerschlagen?« – »Weißt du noch, ich hatte mir vom Wirt ein Weizenfeld ausbedungen? Warum hast du es nicht erwärmt, sondern erfrieren lassen?« Da sagte die Sonne: »Es ist wahr.« – »Erzähl mir aber, warum du neun Tage und neun Nächte nicht auf- und nicht untergegangen bist?« – »Deswegen bin ich neun Tage und Nächte nicht auf- und nicht untergegangen, weil Afimja Mariamna umherschwamm. Ihr Schifflein und ihr kleines Ruder sind von Gold: da hab ich mich in sie vergafft. Ich setzte mich auf ihr Ohr und wollte sie küssen; doch als sie mich mit dem Ruder schlug, flog ich ins Wasser; drei Tage und drei Nächte sank ich bis auf den Grund, drei Tage und drei Nächte lag ich am Ufer.«

Der Bauer und sein Weib lebten danach glücklich und in Freuden und erwarben sich ein Häuschen.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 291-294.
Lizenz:
Kategorien: