302. Weg nach Isental und fahrender Schüler.

[211] »Friähner het mä-n-ibir-ni Leitärä-n-ufä miässä stygä, wem-mä-n-i ds Isitall innä het wellä; wäg dem hennt d'Isitaller d'Leitärä-n-im Wappä,« meldet eine Volksüberlieferung.

Es ist leicht möglich, dass vor Zeiten der Felsenvorsprung bei der Frutt, den der von Seedorf nach Isental führende Fussweg vor Erbauung der neuen, bequemen Isentalerstrasse durch eine in den Felsen gehauene, schmale Treppe überwand, auf einer Leiter erklommen werden musste. Auch sonst ist der Weg schmal und steil, führt über bröcklige Schrunden und Risse, und die Füsse rutschen auf dem bald groben, bald feinen Kies nicht selten aus. Himmelhohe Wände starren zu Häupten des Wanderers und senden von[211] Zeit zu Zeit einen donnernden Gruss in Form eines losgerissenen Felsblocks; auch der blaue See zu Füssen vermag das Düstere der Gegend nicht ganz zu bannen, denn es ist kein Trost, sich sagen zu müssen: »Stürzest du, so bist du eine Beute des tiefen Wassers da drunten.«

Also diesen Pfad wandelte einst ein fahrender Schüler, begleitet von einem Urner. Droben auf der Frutt überschauten sie nochmals den zurückgelegten Weg und erfreuten sich gewiss auch der herrlichen Aussicht, die dieser Punkt dem Auge bietet. Da meinte der Urner: »Nicht wahr, das ist ein gefährlicher Weg?« Der »g'fahred Schüeler« liess nochmals seine Augen aufmerksam über die wilde Gegend streifen und sagte dann in festem Tone: »Nein, dieser Weg ist nicht gefährlich; da kommt niemand ums Leben.« »Und in der Tat,« behauptet mein Gewährsmann, ein 80jähriger Isentaler, »ist auf diesem Weg noch niemand verunglückt.«


Michael Imhof.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 211-212.
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