415. Auf der Kreuzstrasse.

[296] a) Neben dem Zuchthaus in Altdorf ist eine Kreuzstrasse, wo sich die Wege nach Bürglen, Schattdorf, Attinghausen und Altdorf kreuzen. Da hat einmal ein Freund dem andern geraten, er solle in der Heiligen Nacht des Christfestes mitten auf der Strassenvierung mit Kreide einen Kreis um sich beschreiben und von 11–12 Uhr darin stehen; es werden dann drei kommen, und wenn er sich vor ihnen nicht fürchte, könne er einen grossen Schatz haben und den erlösen, der ihn hüten müsse. Der Freund, lüstern nach dem Schatze, befolgte den Rat. Als er im Kreise stand, kam Einer; nun, der war noch anzuschauen. Der Zweite, der erschien, war schon schreckhafter. Der Dritte sah aber so entsetzlich aus, dass der gute Mann in seinem Kreise erschauderte, heraussprang und aus Leibeskräften davonlief.


Frau Inderkum-Scheuber, 50 J. alt, Schattdorf.


b) Zu Schattdorf versprachen sie einst einem frechen Burschen eine schöne Summe Geld, wenn er in der Heiligen Nacht von 11–12 Uhr auf einer Kreuzstrasse sitzen bleibe. Er nahm an und setzte sich wirklich zur gesagten Stunde auf die Kreuzstrasse. Aber da kamen von allen Seiten die abenteuerlichsten Gestalten auf ihn zu, gingen haardicht an ihm vorbei, sie ritten auf Rossen und fuhren mit Karren und Chaisen über ihn hinweg. Doch er hielt stand. Es geschah ihm nichts. Wäre er zur Seite gewichen, so wäre es ihm übel ergangen. Die versprochene Summe mussten sie ihm auszahlen.


Fr. Wipfli-Herger, 80 J. alt, Schattdorf.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 296.
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