1372. Die Geschichte von dem weissen Buebli.

[229] Zu Spiringen bekam ein Weibervolk ein unehrliches Kind, ein schneeweisses Buebli mit schneeweissen Haaren. An seiner rechten Seite war ein weisses, lebendes Bänzli mit grossem Euter angewachsen. Die Mutter schämte sich dieser Missgeburt und hielt sie heimlich; nur ein schlaues Weibervolk in Unterschächen vernahm davon und sagte: »Gib's dü miär!« Und die Mutter überliess ihm das Buebli; es wuchs auf und sog an dem Euter des Schäfchens, das immer grösser wurde. Die Pflegemutter brauchte dem Buebli keine Nahrung zu geben. Als es grösser wurde, stellte sie's vor das Haus, und alle Leute bewunderten es, gaben ihm reichlich Geschenke und fragten, was das sei. Die Pflegemutter sagte, das sei der gute Hirt, und wurde reich von den Geschenken. Als solches die rechte Mutter sah, wurde sie neidisch, sagte aus, es sei ihr Knabe, und forderte ihn zurück. Die Unterschächnerin[229] sagte: »Gut, so nimm ihn!«, und er zog mit ihr nach Spiringen. Aber am nächsten Abend war er wieder bei der Pflegmutter zu Unterschächen. Und so geschah es noch einigemal. Wenn ihn am Morgen die Mutter nahm, war er jeweilen am Abend wieder in Unterschächen. Da warf sie ihn zuletzt in den Schächen. Aber es nützte nichts; noch am gleichen Abend fand er seine Pflegmutter. Da wurde die unehrliche Mutter zornig, streute aus, der Bub sei ihr gestohlen worden, und forderte ihn auf, mit ihr nach Spiringen zurückzukehren. Aber er wollte nicht. »Ihr habt mich ja verkauft«, sagte er. Bei diesen Worten fiel die unehrliche Mutter um und war tot. Wie es weiter gegangen, weiss ich nicht.


Karl Gisler, 72 Jahre alt.


Anmerkung: Nach längerem Verkehr mit meinem Erzähler habe ich erfahren, dass er diese Geschichte etwa im Alter von 15 Jahren in einem Buche gelesen, wie auch andere Märchen, die ich aber nicht in diese Sammlung aufgenommen. Er behauptet, es sei wirklich von Spiringen und Unterschächen die Rede, was doch wohl nicht der Fall ist. Den Ausgangspunkt zum Erzählen der Geschichte bildete die Behauptung, die Unterschächner seien »mehr g'vörtelet« als die Spiringer.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 229-230.
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