505. Der Rötihund mit dem Menschengesicht.

[44] Vor vielen Jahren begab sich Vater Baumann aus der Gescheneralp in die Kehlenalp, um Wildheu zu mähen. Etwas vor dem Röti-Steg begegnete ihm ein grosser schwarzer Hund mit einem Menschengesicht, das er mit nicht geringem Schrecken sofort erkannte. Vor Chlupf fiel Baumann rücklings auf den Boden; der Hund aber verschwand augenblicklich. Die Erklärung glaubt man in der folgenden Erzählung zu finden:

Es war an einem regnerischen Tage, als der stolze Senn der Gescheneralp mit seinen zwei Untergebenen, Hirt und Zuhirt, in den Stafel Röti gefahren war, wo das Sennten gewöhnlich – auch heutzutage noch – etwa 14 Tage bleibt. Der Hirt fragte den Senn, der alles in der Alp zu regieren hatte, wo er heute die Kühe hintreiben solle. Dieser wies ihm die Planggä ob dem Röti-Steg an. Da dieselbe jedoch ungemein steil und steinschlägig, bei Regenwetter daher sehr schlüpfrig und gefährlich ist, so wollte der einsichtige und gewissenhafte Hirt nicht recht einwilligen und machte ernsthafte Gegenvorstellungen. Erst auf strengen Befehl des eigensinnigen Senns trieb er die Herde in die angewiesene, abschüssige Halde hinauf. Nachher ging er wieder zur Hütte, um eine kleine Mahlzeit einzunehmen. Unterdessen löste sich am Berg, vom anhaltenden Regen erweicht, eine lockere Felsmasse los und tötete sechs schöne Kühe.[44]

Nun muss der hochmütige Senn seine sträfliche Nachlässigkeit und seine Hartköpfigkeit, die den Schaden verursachten, büssen.


Schriftl. von HH. Kaplan K. Gisler, Gescheneralp.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 44-45.
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