525. Steghund und Stegkatze.

[55] 1. a) In Erstfeld machte der Steghund viel von sich reden. Es war ein schwarzes Tier mit einem grossen, grünen, feurigen Auge auf der Stirne. Eine Person beschrieb ihn mir als rot. Er begegnete oft den Leuten auf der alten Erstfelder-Brücke und wich ihnen immer nach rechts aus, ging also an der linken Hand des ihm begegnenden Wanderers vorbei. Drückten ihn die Leute an den Rand der Brücke, um ihn zu bewegen, auf die andere Seite auszuweichen, dann sprang er auf das Brückengeländer und marschierte darüber her oder warf sich sogar in das Wasser, aber unter keinen Umständen wich er nach links aus. Einer gab ihm einst einen Fusstritt, doch in einem Augenblick war sein Schuh verbrannt und fiel ihm wie Zunder vom Fuss. Dem Wanderer erschien er zuerst ganz klein, dann wuchs er schnell an; im Augenblick, da er an ihm vorbeiging, war er grösser als der grösste Hund. Er kam von Schattdorf her auf der Strasse über den Rynächt, und sein Auge zündete so hell, dass man seine Wanderung aus den höchsten Berggütern in Attinghausen, Erstfeld und Silenen vollkommen beobachten konnte. Ein Älpler, der nachts von Bogli gegen Erstfeld herniederstieg und auf dem Jützstein im Ditschiwald, etwa eine halbe Stunde ob Erstfeld, sich ein wenig erstellte und die Pfeife anzündete, sah ihn ungefähr eine Stunde von Erstfeld, entfernt von Schattdorf her kommen. Da dachte er bei sich: »Da witt etz doch lüegä, ob nitt vor dem zur Briggä magsch!« und sprang in grossen Sätzen dem Talboden und der Brücke zu. Aber wohl! mitten auf der Brücke begegnete ihm das Tier!

Er sei auch schon in Surenen und Waldnacht gesehen worden. Seine Wohnung hatte er im Rossgädemli in der Alpbachhostet im Taubach nahe bei dem alten, stattlichen Hause, das im 17. Jahrhundert von Landammann Sebastian Muheim bewohnt und auf den Trümmern des alten Meierturms erbaut worden war.


Zacharias Zurfluh, u.a.[55]


b) Andere erzählen, der Steghund habe die nächtlichen Passanten über den Steg oder die Brücke begleitet und sei immer an der nämlichen Seite derselben einhergeschritten.

c) Etwas seltener beschreibt man das Tier als Katze und nennt es Stegkatze, der man im Übrigen die nämlichen Eigenschaften (mit Ausnahme der roten Farbe) und Erzählungen widmet wie dem Steghund.


Franz Zurfluh.


2. Ein anderer Glasscheibenhund hauste ebenfalls zu Erstfeld in dem grossen Hause bei der alten Reussbrücke, das früher die Wirtschaft zum Sternen war. Jede Nacht, nach andern aber nur z'alten Wochen, machte er seinen Rundgang längs der Reuss bis nach Amsteg und wieder zurück; still und ruhig ging er seines Weges. Mit einem einzigen Sprung erreichte er von der Reusswehre aus seine hoch gelegene Firstwohnung.


Jos. Huber.


3. Über das Verschwinden des Steghundes berichten die Einen, ein Kapuziner habe ihn verbannt, Andere erzählen, seitdem man die Kreuzwegbilder durch die Langen Matten errichtete, sei er nicht mehr gesehen worden.

4. Ein Erstfelder wollte sich spät am Abend in's Erstfeldertal begeben, um am folgenden Tag Wildheu zu mähen. Auf seiner Achsel trug er eine Sense. In der Nähe des Wirtshauses zur Krone schlich auf einmal aus der Strassenmauer eine Katze hervor und auf ihn los. Sie strich ihm um die Beine und rieb ihren Kopf an seinen Füssen. Weil er so nicht vorwärts kam, gab er ihr einen Fusstritt. Aber da schwoll sie auf einmal an, sprühte Feuerfunken, schaute ihn mit gleissenden Augen an und wollte an ihn hin. Nur mit seiner Sense konnte er sich ihrer erwehren. Sie ging nun vor ihm her, dicht vor den Füssen; mehrere Male reikte er ihr mit der Sense, dass er meinte, sie müsse in Stücke zerhauen sein. Aber es nützte nichts. Erst einige Schritte vor der Brücke verschwand sie plötzlich. Aber jetzt kam von der andern Seite der Steghund entgegen bis dicht vor ihn und zündete ihm mit zwei feurigen Augen, die ihm wie ein »Spiegel« (Brille) im Kopfe sassen, ins Gesicht. Jetzt wurde dem Erstfelder doch heiss und angst. Er stand still und rief Gott an. Der Hund roch am Boden und kehrte zurück.


Frau Zieri-Frei, 50 J. alt.[56]


5. Der Steghund begegnete oft den Nachtbuben und zwar immer mitten auf dem Stege, und immer ging er still und ruhig an ihrer linken Hand vorbei. Einst verabredeten sich ihrer eine hübsche Anzahl Burschen, den Steghund auf die Probe zu stellen, um der unheimlichen Geschichte auf den Grund zu kommen. Sie teilten sich eines Abends in zwei Gruppen, die eine kam vom Schattigen, die andere vom Sonnigen her auf die Brücke zu. Als sie diese gleichzeitig betraten, bemerkten sie etwas auf der Brücke. Dennoch marschierten sie mutig und entschlossen drauflos. Als sie mitten auf dem Steg zusammentrafen, sprang der Hund über die Steglehne hinaus in die Reuss hinunter. Als er in den Fluten schon untergetaucht war, rauschte es noch so merkwürdig. Seitdem hat man ihn nie mehr gesehen.


Ambros Walker.


6. Das zündende Auge, das der Steghund mitten auf der Stirne trug, war nach Aussage der Alten dreieckig. Wenn er allemal von Surenen und Waldnacht her durch den Bockiberg herunterkam, sei ihm die Helle weit vorausgegangen.


Alois Furrer, 53 J. alt, Erstfeld.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 55-57.
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