580. Die Frau und die tote Kuh.

[80] Auf der kleinen Alp Hohnegg am Fusse der himmelanstrebenden Gitschenfluh, Gemeinde Seedorf, hatte ein strebsamer Bursche lange Jahre als Knecht gedient. Nachdem sein Meister gestorben, kaufte er von den Verwandten des Dahingeschiedenen das Hüttenrecht und die wenigen Kühe ab, die er ihnen hinterlassen, und heiratete das Mädchen, das so manches Jahr neben ihm als Magd gearbeitet hatte.[80] Eines Morgens kam er viel früher als gewohnt aus dem Gaden, setzte sich mit trauriger, bekümmerter Miene zum Tisch, stützte den Kopf auf die Hände und staunte und studierte. Als ihm die Frau den Nidlenkaffee brachte und ihn zum Zugreifen einlud, da rückte er das Beckli auf die Seite und sagte: »Ich mag nitt; äs laht mer's nid appä.« »Jä was drickt di de?« fragt die besorgte Frau. »Eh, dië scheenscht Chüeh lyt tot im Gadä-n-innä,« lautet die Auskunft. »Ja, wägä dem tüe dü etz nid äsoo,« tröstete sie, »wenn ich de i Gadä gah, staht sy de scho wider üff; aber ich mües-si sälber mälchä, und dü müesch hië blybä.« Und nun ging sie in den Stall, während der Mann im Stubli zurückblieb, und kam nach einiger Zeit mit einem grossen Eimer voll Milch zurück. »Eh, was hesch etz äu dü g'macht?« fragte staunend der Mann.

– »E, si isch üffg'standä, wo-n-ich innächu bi.«

– »Ja, aber dië het ja nië ä seevel Milch g'gä.«

– »Ich has-si halt g'mulchä, bis nymeh chu isch.«

Seit dieser Zeit hirtete und molk die Frau die sonderbare Kuh, während der Bauer das übrige Vieh besorgte.

»D'r alt Eggeler-Toni sälig, der hätt scho deerä G'schichtä gwisst; der het z'Stundä-n- und z'Stundä lang v'rzellt und hed einisch g'meint, wennd'm Einä-n-äs Lehndli gäbt, sä wett'r vo einer Mitternacht zur andärä a einer Tür v'rzellä.«


Hans Exer, 80 J. alt, von Seedorf.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 80-81.
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